Sturz der Tage in die Nacht
Knäckebrot bestreichen sehen. »Solange es so aussieht, als könnte es was werden mit uns, solltest du das Recht haben –« Sie hörte auf mit dem Streichen und legte das Messer weg. Sie sah mich an. »Sollten wir beide das Recht haben, es zu genießen, findest du nicht?«, sagte sie, als hätte sie gerade einen wichtigen Gedanken gehabt und ihn verworfen. »Und heute Abend fangen wir damit an.«
Ich weiß bis heute nicht, was Inez mir damals hatte sagen wollen. In diesen Tagen und Wochen im August kam sie nicht mehr darauf zurück. Wir saßen auf dem Plateau, oder ich ging zu ihr in die Hütte, und über den langen Abenden vergaß ich unser Gespräch. Es wurde so nebensächlich wie dieses Gefühl, das dem ähnelte, eine Treppenstufe zu verfehlen und mit dem Fuß ins Bodenlose zu treten: Etwas passierte, ohne dass ich hätte sagen können oder auch nur ahnte, was.
Ich ging zu Inez, wann ich wollte, wann immer mich die Leere im Hafen überfiel. Inez kam und ging. Vor den Scouts tat sie nicht mehr so, als wäre ich irgendein Praktikant. Sie ließ sich von mir in den Arm nehmen, sogar wenn Guido in der Nähe war. Sie wollte, dass ich meine Arbeit in ihrem Büro erledigte. Als ich zu einer Mitarbeiterbesprechung zu spät kam, stand sie auf und küsste mich. Die anderen hatten es sowieso längst gewusst. Aber für uns fühlte es sich anders an. Für uns war es neu. Es gab jetzt dieses Wort: uns.
Und dann tritt der Fuß ins Bodenlose.
Und nichts bleibt, wie es ist.
Mitte August oder schon September.
Plinthosella Squamosa
Inez Rauter
hätte nach ihrem Fieberanfall keinen Tisch im Rosengården bestellen müssen. Sie hätte sich nicht gegen den Widerstand des Inselvereins drei Tage freinehmen und nicht in den Schatten der Ruine von St. Karin sitzen müssen, und als der Junge sie berührte, hätte sie nicht das Gefühl haben müssen, die Knochen würden alle auf einmal aus ihr entweichen. Sie hätte nicht zu ihm sagen müssen
Du bist einer der realsten Menschen, die mir je begegnet sind
, und die Eiswürfel im Weinkühler hätten nicht klingen müssen wie lang aufgestautes Lachen. Sie hätte nicht glücklich sein müssen.
Im Grunde, dachte sie, hätte alles nicht sein müssen, hätte sie den Jungen gar nicht erst berührt unten am Steg, als noch Sommer war.
Und sie hatte es getan.
Sie war mit ihm nach Visby gefahren. Sie hatte ihm den Marktplatz gezeigt. Den ganzen Sommer über hatten Händler dort ihre Stände aufgebaut. In der ersten Juliwoche herrschte das größte Gedränge. Politiker und Gewerkschaften, gemeinnützige Vereine und christliche Verbände trafen sich für eine Woche in Visby, stellten ihre Programme vor, boten Diskussionsrunden und Seminare an. Mitte Juli überschwemmten die reichen Jugendlichen aus Stockholm die kleine mittelalterliche Stadt, um in den Cafés am Platz und im Hafen flaschenweise Champagner zu trinken, sich tief und sinnlos zu verlieben und sich in der nicht dunkel werdenden Nacht der Illusion hinzugeben, sie könnten die flüchtende Zeit festhalten, die ihnen noch blieb, bevor sie das Geschäft der Eltern übernehmen, in die IT -Branche einsteigen, als Manager von Banken, Designerlabels oder Elektronikkonzernen um die Welt jetten würden und diese erste ausgelassene Beschwipstheit nur noch als Bildschirmhintergrund oder Pop-up auf dem i-Phone existieren würde. Im Juli waren auch die Segler hier, die Jachtbesitzer aus Estland oder Finnland. Einmal war ein russischer Oligarch gesichtet worden, dessen Jacht so groß war, dass sie außerhalb des Hafens vor Anker gehen musste. Bus- und Fahrradtouristen ließen sich auf Stadtführungen die historischen Gebäude erklären, und alle blieben bis zum Höhepunkt der Saison, der Mittelalterwoche im August, in der sich die Einheimischen als Burgfräulein oder Ritter verkleideten und Fackeln vor den Häusern entzündeten.
Die Mittelalterwoche war vorbei. Die Stadt hatte sich wieder geleert. In ein paar Tagen würden die Händler ihre weißen Schirme zusammenklappen, ihre Waren winterfest verstauen und zu ihren Teilzeitjobs aufs Festland zurückkehren. Nur ein paar verspätete Touristen spazierten noch zwischen den Ständen herum.
Inez nahm ein paar der angebotenen Dinge in die Hand. Seife aus Ziegenmilch, ein Plüschlamm aus Wolle, gotländischen Honig, ein grünes Lederarmband mit einem samischen Flechtwerk aus Silberfäden. Sie band es Erik ums Handgelenk. Es saß zu straff, aber es gefiel ihm, und der Händler kramte in seinen
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