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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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Kisten geduldig nach einem größeren. Und während er Lederarmbänder in schwarz und blau vor ihnen ausbreitete, kam es Inez so vor, als wäre sie auf einer romantischen Urlaubsreise.
    Sie hatte lange keinen Urlaub mehr gemacht. Sie war öfter auf Reisen gewesen, sie hatte eine Zeitlang jeden Winkel der Welt erforschen und so weit weg sein wollen wie möglich. Sie war auf eigene Faust losgefahren mit dem Geld, das sie neben der Abendschule in einer Backfabrik verdient hatte. Sie war mit Zug oder Bus nach Barcelona gefahren oder nach Amsterdam, aber das war etwas anderes gewesen. Sie war meistens allein gereist. Und als sie dieses Herumreisen mit ihrer Arbeit verbunden hatte, machte sie das, was gewöhnlich als Urlaub galt, täglich.
    Zwischendurch hatte sie einen festen Freund gehabt oder auch zwei, aber sie hatte sie schnell wieder aufgegeben. Sie mochte ihren Rasierwassergeruch morgens, sie mochte es auch, wenn sie sich mal nicht rasiert hatten, um sich für die Clubnacht mit ihr einen wilden Anstrich zu geben. Sie fand es nicht unsymphatisch, wenn sie morgens um fünf auf offener Straße betrunken in Tränen ausbrachen, weil sie einen Fehltritt bereuten, einen Flirt an der Supermarktkasse, einen Streit mit ihren Vätern, einen Streit mit ihr. Auch die Fehltritte fand sie nicht unsymphatisch. Aber sie begriff, dass sie nur der Form halber mit ihnen zusammen war.
    Sie fühlte sich schäbig, obwohl die Männer ihr versicherten, sie würden dieses Moderne an ihr mögen, sie zögen ihre Unabhängigkeit den emotionalen Erpressungen früherer Beziehungen vor. Aber für Inez war es keine Unabhängigkeit. Diese Männer waren ihr einfach nicht wichtig.
    Sie lebte gut. An der Abendschule und später in den Seminargruppen hatte sie Leute kennengelernt, einige von ihnen näher, aber das körperliche Bedürfnis wurde nie so stark, dass sie sich deswegen mittelmäßige Nächte hätte antun wollen. Ihre Abstinenz betrachtete sie als eine Art sexuellen Vorruhestand. Die Lust mit sich selber schloss das nicht aus. Nur Verhältnisse jeglicher Art kamen eben nicht mehr in Frage.
    Die ornithologische Arbeit hatte sie an entlegene Orte geführt, an Orte außerhalb Europas, und dort hatte die Sehnsucht, zu reisen, irgendwann nachgelassen. Sie begann wieder mehr zu lesen. Wenn sie Bücher mitnahm, war es nicht nur Fachliteratur. Sie las Krimis, Erzählungen, manchmal Romane. Eine Zeitlang waren es diese Bücher gewesen, die ihr eine Art Urlaubsgefühl verschafften. Inez erinnerte sich an einen Roman, den sie bei subtropischer Hitze gelesen hatte über ein Mädchen aus dem Osten, das Ende der 70er Jahre ein Flugzeug entführt. In dem Drang, weg zu sein, war dieses Mädchen Inez wie eine frühere Version ihrer selbst erschienen. In ihrem Drang oder ihrem Protest gegen das Leben überhaupt, in dem etwas Grundsätzliches nicht stimmte.
    Jetzt war Inez einundvierzig und wollte nirgendwo mehr hin.
    Sie wollte hier sein. Sie wollte nirgendwo anders sein als auf dem Marktplatz von Visby. Im Spätsommerlicht, das die Gesichter und die Häuser und die Ruine am Rand des Platzes scharf ausschnitt. Auf diesem von Cafés umrahmten
Stora Torget
, wo es nach Ostsee und warmem Safrankuchen roch.
    Der Händler bot Erik ein dunkelgrünes Lederhalsband an. Es stand ihm nicht. Als er es wieder abmachte, hinterließ das Band einen Staubstreifen am Kinn. Sie wollte ihn wegwischen, aber Erik war so vertieft in sein Gespräch mit dem Händler, dass er es nicht bemerkte. Er erklärte auf Schwedisch, dass in Schweden viele Ziegen wohnen und die Menschen politisch antik seien und dass er es anpasserisch fände, überall schöne Informationen über Seen zu erhalten, und man nachts viel Teer am Himmel sehen könne, und weil der Händler begriff, dass es nett gemeint war, sagte er bloß: »Jaha.«
    »
Stjärna
«, sagte sie und wischte sich selbst übers Kinn.
    »
En så magnifik stjärnhimmel kan man bara se i Sverige«,
sagte der Händler, dem sie eine südeuropäische Herkunft unterstellte. Das politisch Antike schien ihn nicht zu verwirren. Er lächelte jetzt.
    »Und was hab ich gesagt?«
    »Du hast ihm erklärt, dass sein Himmel voll
tjära
ist.«
    Der Wind trieb die ersten heruntergefallenen Blätter in einem Wirbel auf.
    »Na ja«, sagte Erik. »Dunkel ist er ja auch.«
    Sie sah ihn an: Sein hübsches Ohr. Seine bezaubernde Schläfe. Seine berückenden Lippen.
    Alles Stellen, an denen sie sein wollte.
    Als sie die Hand hob, um sein Kinn zu berühren, fing er

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