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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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Praktikantin sagte mir, sie wäre krank. Aber dann sah ich, wie sie dem Kapitän eine Tüte mit leeren Weinflaschen gab, die er in den Glascontainer in Klintehamn werfen sollte, und später sagte sie mir, sie habe versucht, sich den Zustand von Unschärfe und Betäubung mit Alkohol zu erhalten, nachdem das Fieber nachgelassen hatte.
    Als sie wieder ins Büro kam, war sie übernächtigt und blass. Es regnete. Ich saß auf ihrem Stuhl und las einen englischen Forschungsbericht über das Tauchverhalten der Lummen,
Verfolgungstaucher, die ihre Nahrung in einer Tiefe von bis zu hundert Metern jagen
, kam aber über die Einleitung nicht hinaus. So hatte ich die letzten Tage verbracht. Das Wetter war kühl und unbeständig, nur manchmal abends hörte der starke Wind auf, und ich machte einen Streifzug über die Insel. Tagsüber lag ich im Leuchtturm auf dem Bett. Ich redete mir ein, ich würde nachdenken. Und vielleicht dachte ich auch nach. Vielleicht dachte ich darüber nach, was hier passierte, denn etwas passierte, soviel war sicher. Das lag in der Luft, das war im Geschrei der Vögel, die die Klippen verließen, im Nachhall ihrer Schreie und ihrer wie an nassem Wind entlangwischenden, eiligen Flügelschläge, aber ich wusste nicht, was, und das machte mich zum nutzlosesten Menschen der Welt. Also stand ich auf und ging hinüber ins Büro, surfte im Internet, kramte in den Schubladen, blätterte ein paar Ordner durch. Wenn die Praktikantin zur Tür hereinsah, tat ich beschäftigt. Die Praktikantin tat so, als wolle sie sichergehen, dass es mich noch gab, und da das jedesmal zu ihrer äußersten Überraschung der Fall war, konnte sie ihr eigentliches Anliegen loswerden: dringend mit mir Kaffee trinken zu gehen. Ich hatte in diesem Fall immer schon Kaffee getrunken und fand die Forschungsberichte oder Vorlesungsmitschriften aus Inez’ Studienzeit weitaus wichtiger. Meistens las ich nur das, was rot unterstrichen war.
    Einer der Sätze, die rot unterstrichen waren, lauteten:
Frauen in emotionalen Stresssituationen bringen überdurchschnittlich häufig Jungen zur Welt
.
    Inez nahm mir den Bericht aus der Hand. Sie warf ihn ans Ende des Schreibtisches und sagte, als wäre der Raum voller Menschen: »Hat sich jemand um die Tabellen zur Nahrungsverfügbarkeit gekümmert?«
    Ich sah mich hilfesuchend zum Schrank um. »Vielleicht mein schüchterner Kollege hier?« Inez ging nicht auf den Witz ein. Sie klickte auf eine Datei im Computer und forderte mich auf, die Messergebnisse auszuwerten. Es ging darum, ob die Lummen im Vergleich zum Vorjahr mehr Plankton oder mehr Fische fraßen.
    »Geht’s dir wieder besser?«
    »Ja«, sagte sie. »Ich hol mir einen Kaffee. Soll ich dir einen mitbringen?« Sie kam mit zwei Bechern zurück. »In diesen Sommerklamotten kannst du nicht mehr lange rumlaufen.«
    »Wieso, es ist August!«
    »Eben. Ende des Hochsommers.«
    »Das ist alles, was ich dabeihabe.«
    »Deshalb fahren wir morgen nach Visby. Für den Abend habe ich uns einen Tisch reserviert.«
    Am nächsten Morgen regnete es, und die Fähre legte im Nebel ab, aber noch während der Überfahrt klarte es auf. Wir nahmen im Fährhafen den Bus nach Visby, und als wir an der östlichen Seite der Stadtmauer ausstiegen, war die Sonne zu sehen.
    Wir liefen durch das Stadttor in die Altstadt hinein, wir liefen die schiefen Kopfsteingassen zum Hafen hinunter, an Kirchen und niedrigen, bunten Holzhäusern vorbei, wir stiegen sie wieder hinauf. Wir kauften Safrankuchen in einer Bäckerei und aßen ihn vor der Ruine des St.-Karins-Kloster im schweren grünen Licht, das durch den Efeu fiel. Inez nahm meine Hand.
    In einem Laden in der Nähe der Stadtmauer fand ich einen teuren Pullover aus Lammwolle. Er war dunkelblau, über der Brust spannten sich sandfarbene Streifen. Inez gefiel er, und ich kaufte ihn. Es war aufregend, etwas Teures zu kaufen, weil es ihr gefiel.
    Auf den Tischen der Restaurants standen Karaffen mit Weißwein. Decken lagen über den Stühlen. Die Heizlampen brannten. Inez schlug vor, einen Aperitif im Freien zu trinken und zum Essen hineinzugehen. Wir setzten uns so, dass wir den Marktplatz sehen konnten und die Chorgänge der Ruine. Durch die Rundbögen leuchtete der Himmel.
    »Trink was Gutes, Erik«, sagte sie und legte sich eine der Decken über die Beine. »Ich hab dir was zu sagen.« Der Wind war kühl, und ihr Haar war offen und fiel weich auf die Schultern, auf den schlichten, geraden Mantel in einem hellen Grau, auf den

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