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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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Hände, die strengen Linien von der Nase zum Kinn, das war ihr vorher nicht aufgefallen. Wenn sie mit dem Finger prüfend die Haut am Arm oder am Hals zusammenschob, stellte sie erschrocken fest, wie lange die Haut in den entstandenen Falten hängenblieb. Und wie die Falten, wenn die Haut sich endlich geglättet hatte, rote Streifen hinterließen.
    Es war schwer, sich vorzustellen, dass der Junge das nicht bemerkt hatte. Wenn sie ihn sah, seine hellbraunen Augen, dieses ungelenk großkotzige Lächeln, dann konnte sie es nicht verhindern, ihn umringt zu sehen von Mädchen, beim Beachvolleyball oder in Clubs, wo eine andere, coole Sprache geredet wurde, jedenfalls nicht ihre,
großkotzig
würde dort garantiert niemand mehr sagen.
    Vielleicht war dieser Junge nur eine Gelegenheit, eine rein körperliche Sache, anziehend und erregend, faszinierend in seiner trotzigen Selbstbehauptung, etwas, was man mitnahm, weil es nicht wiederkehren würde. Das herauszufinden konnte sogar der Grund gewesen sein, aus dem sie schließlich mit ihm schlief, an diesem Abend, nachdem sie mit ihm auf dem Plateau gesessen hatte und ihr seine Fragerei über Feldberg auf die Nerven gegangen war.
    Ich bin dafür, dass du mit in meine Hütte kommst. Jetzt, wo wir wissen, wie der Sonnenuntergang funktioniert.
    Inez saß auf der Schaukel. Sie schwang höher, und der Wein ließ ihre Beine fliegen und machte sie leicht.
    Das Schaukeln verwischte die Bedenken.
    Weder das Verwischen noch das Betrinken passten zu Inez, weshalb sie es an diesem Tag systematisch tat.
    Danach legte sie sich aufs Sofa und schlief. Bevor sie wieder ins Büro ging, rief sie ein Restaurant in Visby an und reservierte einen Tisch.

Die Flintschale
    Die Insel ist im Dunst verschwunden.
    Die Fähre saugt Wasser ein und spuckt es wieder aus. Wenn ich länger hinsehe, erfasst mich einer der Strudel, die sich im Kielwasser bilden, und wirbelt mich herum. Mir kommt es vor, als würde die Überfahrt nie enden.
    Die Ostsee gibt sich stumpf. Bleiblau.
    Sobald wir in Klintehamn anlegen, wird das vorbei sein. Dann wird der leere Hafen da sein, der nackte Beton, die verrammelte Fischbude und drüben auf der anderen Seite der Bucht das weiße Restaurant, in dem eine Wurlitzer Jukebox spielt. Fats Domino und Bill Haley, das ganze Zeug, das meine Mutter so mag, dringt zusammen mit dem Gläserklirren und dem Tellerklappern aus den geöffneten Fenstern.
    Es wird alles so sein wie vor drei Monaten. Es wird normal sein und so alltäglich, dass man vermuten könnte, nichts sei in der Zwischenzeit geschehen.
    Ich bin unterwegs gewesen, ich habe mich ein bisschen umgesehen in der Welt wie meine Kumpel aus Schulzeiten, bevor der Ernst des Lebens beginnt. Wenn meine Kumpel das sagten,
der Ernst des Lebens
, meinten sie allerdings auch das Ende der Phantasie. Es klang, als würden sie ihr Leben nur noch durch ein Raster betrachten, in dem alles geordnet dargestellt war.
    Schluss mit lustig, Ende Gelände, Aus die Maus
, sagten sie, klatschten sich ab und lachten sich kaputt über diese altmodischen Formulierungen, die ihnen da auf den Zungen lagen und die sie früher mal von ihren Eltern gehört hatten. Aber ihrem Lachen war auch die Genugtuung anzuhören, dass sie jetzt endlich soweit waren, dass sie dazu gehörten, dass niemand ihnen diese erwachsene Normalität mehr streitig machen konnte.
    Damals hatte ich aus Protest nicht mitgelacht.
    Und wenn ich sie jetzt wiedersehe, werden sie von ihren Jobs reden und davon, wie viel Kohle sie machen und, wieviel sie für ihre Wohnungen und Autos und Freundinnen ausgeben, und garantiert wird einer von ihnen bald Vater, und irgendwann werden sie merken, dass ich meinen Mund halte, und fragen, was ich eigentlich den Sommer über getrieben habe,
Mann, alles klar bei dir?
    Die erwachsene Normalität. Der Ernst des Lebens.
    Manchmal denke ich, wenn ich Inez nicht kennengelernt hätte, wenn ich mich nicht in sie verliebt hätte, hätte ich niemals gewusst, wie das ist: einen Ort zu haben, an dem nichts so geschieht, wie man es kennt. Oder besser: einen Ort, der sich andauernd entzieht, weil es ihn nur in der Vorstellung gibt.
    Aber das werde ich ihnen nicht erzählen. Es wird ein Geheimnis bleiben, ein Geheimnis zwischen Inez und mir, und vielleicht ist es das, was uns am Ende am meisten verbindet. Nicht das Schicksal. Nicht die Bande der Geburt.
    Vieles bleibt lückenhaft.
    Was Inez in den Tagen machte, nachdem sie die tote Lumme gefunden hatte, weiß ich nicht. Die

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