Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
Vom Netzwerk:
Sohn dieser Dame im Norden verschollen war, aber ich verstand es auch so.
    Ich schwieg. Der Handyempfang im Stadtzentrum war gut. Es war nicht damit zu rechnen, dass die Verbindung abriss.
    Dann lachte die ältere Dame, die meine Mutter war. Sie schien irgendeine Entscheidung getroffen zu haben und sagte: »Okay, mein Sohn. Ich
bin
furchtbar enttäuscht. Und du
solltest
ein schlechtes Gewissen haben. Die Schweine haben
richtig
an mir verdient. Außerdem hast du inzwischen die Zusagen von zwei Universitäten hier. Aber, Erik, wenn es wichtig ist, hörst du, dann musst du dortbleiben. Ich wünschte nur, du würdest deine alte Mutter ein bisschen besser informieren.«
    »Ich kann auch meine junge Mutter informieren.«
    Sie räusperte sich. Dann wurde es so still am anderen Ende, als sei die Verbindung doch abgerissen, und ich hörte mir ihr Schweigen eine Weile an, ehe ich kapierte, worum es ging. »So habe ich das nicht gemeint!«, sagte ich. »Ich meinte –.
Du
sollst dich nicht älter machen, als du bist!«
    »Schon gut. Gibt’s in der Richtung irgendwas Neues?«, sagte sie kühl.
    Als ich auflegte, brannten mir die Hände.
    »Hast du sie beruhigen können?«, sagte Inez, die ihren Martini fast ausgetrunken hatte.
    »Logisch. Schweden ist schließlich nicht Afghanistan.«
    »Und sie ist schließlich deine Mutter.«
    »Ganz genau«, sagte ich. »Sollen wir reingehen? Mir ist arschkalt.«
    Inez trank den letzten Schluck und wickelte sich aus der Decke.
    Wir bekamen einen Tisch am Fenster, und zum Kellner, der uns mit den Speisekarten vorangegangen war, sagte Inez: »Von allem, was Sie uns bringen, nehmen wir auf jeden Fall mehr.« Und als der Kellner fragte, ob das jeweils eine doppelte Portion bedeutete, sagte sie: »Wir sind sehr hungrig. Wir würden heute Abend gern richtig satt werden. Und diese Portionen hier sind doch sehr klein.« Der Kellner sah auf seinen Block. Ihm fiel offenbar nicht ein, wie er diese Auskunft in eine Bestellung übersetzen sollte. Schließlich gab er auf und ging. Ich nahm Inez den Mantel ab, den sie achtlos über die Stuhllehne hängen wollte, weiches Material, Kaschmir. Ich hatte noch nie einer Frau den Mantel abgenommen, nicht mal meiner Mutter, die sich jedesmal genierte, aber Inez machte mit, und es fühlte sich gut an.
    »Was nimmst du?«, fragte ich, als ich von der Garderobe zurückkam. »Ein gebratenes Täubchen? Wir könnten es mit Beringung bestellen.«
    Inez verzog das Gesicht.
    »Das sollte ein Witz sein.«
    »Das ist ganz und gar kein Witz. Das spaltet die Forscherwelt.«
    »Ob man Federvieh essen darf oder nicht?«
    »Ich kann manchmal selbst an eine Weihnachtsgans nicht ran. Andere haben da gar keine Probleme. Die essen von der Blaumeise bis zum Eisvogel alles.«
    »Singvögel?«
    »Ja.«
    »Sollte das nicht tabu sein?«
    Inez lachte.
    »Die essen ihre Schützlinge?«
    »Auch wenn du aus Forschungsobjekten Schützlinge machst, wird das die Vogelfresser unter den Ornithologen nicht abschrecken.«
    »Man würde denken, es gibt so etwas wie eine Berufsehre.«
    »Sie glauben, sie können nur das begreifen, was sie essen. Wenn sie einen toten Vogel bei ihren Feldforschungen finden, wird der gegrillt. Solange er keine Zeichen von Krankheit zeigt.«
    »Kolibris?«
    »Sie würden auch Kolibris braten, wenn es an den kleinen Rippen was zu nagen gäbe.«
    »Absurd.«
    »Die anderen von uns glauben, dass die vogelfressende Gruppe noch im Kleinkindalter steckt und dass die Kollegen wahrscheinlich auch ihr Fahrrad erst mal ablecken, bevor sie damit fahren.«
    Der Kellner kam mit einem großen Korb Knäckebrot zurück, den er herablassend vor uns hinstellte.
    »Was nimmst du?«
    Ich blätterte in der Karte. Die Auswahl war nicht groß.
    »
Grillad lax filet
mit neuen gotländischen Kartoffeln und Salat. « Inez brach ein Stück Knäckebrot ab. »Pasta mit Gorgonzolasoße klingt auch nicht schlecht.«
    »Käsepasta hat meine Mutter ständig gemacht.«
    »Komisch, oder«, sagte Inez, »dass wir dem, was uns vertraut ist, oft am stärksten misstrauen.« Sie bestrich das Knäckebrot mit Butter aus einem Näpfchen.
    »Ich meinte nur, dass es mich langweilt, immer dasselbe zu essen.«
    Inez strich die Butter in die Täler und auf die Hügel des Knäckebrots. Sie machte das langsam und gründlich. »Was ich dir sagen wollte, Erik –« Sie führte einen neuen Splitter Butter zum Brot. »Weswegen wir hier sind –« Sie strich die Butter glatt. Ich hatte noch nie jemanden so lange ein

Weitere Kostenlose Bücher