Sturz der Tage in die Nacht
nur den Geduldigen sichtbar wurde. Es gab keine dramatischen Färbungen oder schillernden Fische, wie sie sie im Pazifik gesehen hatte. Das Wasser war weich und nicht besonders salzig, und die Wellen blieben auch weiter draußen meistens flach. Aber wenn es stürmte, konnte sich auch dieses Meer so aufschaukeln, dass Segelboote kenterten, manchmal eine Fähre sank und Steilküsten ausgespült wurden. Es gab das Licht in seiner intensiven nördlichen Klarheit und das Wagnis des Spiels, das Risiko einer Behauptung.
Vielleicht war das den meisten zu wenig. Manchmal schien es ihr, dass man die Ostsee schon aufgegeben hatte. Es war ein Wunder, dass dieses Meer überhaupt noch existierte. Die Algen im Sommer waren nicht zu übersehen, und jedes Jahr wurden sie mehr. Der Schwefelwasserstoffgehalt stieg. Seit Jahren hatte es nicht gestürmt. Es hatte keinen dieser großen, das Meer bis in die Tiefe aufreißenden, furchtbaren Stürme mehr gegeben, und neue Todeszonen breiteten sich aus. Sie überlagerten die alten, in denen noch immer Fischer an Phosphorklumpen aus dem Zweiten Weltkrieg verbrannten oder Überreste der fünftausend Flüchtlinge aus DDR -Zeiten auf den Grund gesunken waren, Halsketten, Surfbretter, von Minen zerfetzt.
Das schwedische Meteorologische Institut hatte festgestellt, dass auf zwanzig Prozent des Bodens in der Ostsee kein Leben mehr existierte. Auf riesigen Flächen gab es nichts als Bakterien. Und trotzdem fuhren noch immer Schiffe darüber, die ein Schweröl mit einem viel zu hohen Schwefelanteil benutzten. Ohne einen Salzwassereinbruch aus der Nordsee, der frischen Sauerstoff ins Tiefenwasser spülte, würden bald noch weniger Fische laichen und noch mehr Fische sterben, und die Lummen würden nach und nach verschwinden. Aber auch das hatte seine Logik, dachte Inez. Je mehr Flächen man verloren gab, umso kleiner wurde der Gewissenskonflikt. Auf toten Flächen ließ sich problemlos eine Erdgaspipeline verlegen.
Inez trank. Der Wein wühlte sie auf. Später würde er sie besänftigen, das war wie mit dem Fieber. Zuerst heizte es auf, dann machte es schlapp.
Sie leerte ein Glas nach dem anderen. Sie trank sich zu den eigenen toten Flächen durch, was schwieriger war. Sie lagen tiefer als in der Ostsee, und sie hatte keine Ahnung, auf welche Pipelines sie am Ende stoßen würde.
Sie trank, bis die angenehme Verschwommenheit hinter der Stirn zurückkehrte. Das Fenster verschwamm. Als sie vom Fenster wegsah, hinterließ der Rahmen eine weiße Schleifspur in der Luft, eine Art Schaukel. Sie holte die Schaukel an einem der Seile zu sich heran und setzte sich auf das Schaukelbrett und holte Schwung. Und je höher sie schaukelte, desto näher kam sie wieder der Gegenwart. Je höher sie schaukelte, desto geringer wurden die Bedenken, die sie bis jetzt wegen dieses Jungen gehabt hatte.
Erik.
Sie mochte ihn. Sie mochte sein Lächeln. Sie mochte sein Gesicht, das aus der weichen Unbestimmtheit des Anfangs noch nicht heraus war.
Sie sah ihn vor sich. Sie sah ihn, wie sie ihn einmal vom Fenster aus gesehen hatte. Sie hatte ihn dabei beobachtet, wie er sich am Strand auszog. Es war kühl und sonnig gewesen, einer dieser Tage im Juni, bevor sie sich geküsst hatten. Er hatte sein T-Shirt abgestreift und in Shorts da gestanden, die zu tief saßen, wie die Hosen der Jungs heute immer zu tief saßen. Sie sah seinen Rücken vor dem Meer, diesen glatten, kräftigen, gebräunten Rücken, der in einer leichten Kurve in die Rundung seines Hinterns überging. Die Shorts ließ einen schmalen Streifen unbedeckt. Er glaubte sich allein, oder er tat so. Vielleicht legte er es darauf an, dass sie ihn sah; ein Gedanke, der sie erregte. Er drehte sich nicht um. Er schob seine Hände unter den Gummibund der Shorts und ließ ihn schnippsen. Dann streifte er die Hosen ab. Nackt stand er da. Der Schwung, mit dem der Rücken vom leuchtendsten, kräftigsten Braun in das mildeste Weiß hinein verlief, schien ihr wie ein Zeichen seiner strahlenden Jugend, eines sehnsuchtsvollen, dehnbaren, starken Anfangs. Alles war da, was sich vielleicht in ein paar Monaten schon versteift und eingelebt hätte, und so wollte sie ihn.
Sie wollte ihn so sehr, dass sie noch einen Moment am Fenster stehenblieb, eine Hand unter dem T-Shirt, bevor sie sich zusammenriss und einen Artikel aus der letzten Ausgabe der Zeitschrift
The Auk
aufgeschlug.
Seit sie den Jungen so gesehen hatte, schien ihr der eigene Körper gealtert. Die starken Adern der
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