Sturz der Tage in die Nacht
wusste: Wenn man es mit einem wie ihm zu tun hatte, gab es so etwas wie Zufall nicht.
»Seh ich ganz genauso«, sagte Feldberg auf der Terrasse und legte einen Arm um ihre Schultern. Der Arm war schwer, aber er hielt den Andrang des Dunkels, das aus dem Garten kam, zurück. »Lass dir von einem Freund einen Rat geben. Du gehst jetzt rein und haust dich ein bisschen hin, und morgen sieht die Welt schon wieder anders aus.«
»Morgen bin ich noch einen Tag mehr schwanger.«
Feldberg probierte eine andere Sitzhaltung aus. Seine Hand rutschte dabei unter die Decke und schloss sich um ihren Oberarm, ein Griff, den er noch Jahre später, an einem Junimorgen am Strand, genauso beherrschte.
»Was wird’s denn?«, fragte er. »Was sagt dir dein weiblicher Instinkt?«
Der Garten brandete gegen sie an. Aber die Decke und der Arm und die Hand bildeten jetzt eine kleine und stabile Höhle.
»Will ich gar nicht wissen.«
»Doch. Natürlich willst du das wissen«, sagte Feldberg sanft. »Ein Prinzesschen oder ein Bengel, das ist ein Unterschied.«
»Kind ist Kind.«
Feldberg presste Inez enger an sich. »Jungs sind Heulsusen«, sagte er. »Wenn’s ein Junge wird, würde ich ihm zuerst das Heulen abgewöhnen.«
»Felix macht keine Heulsusen.«
»Felix, Felix«, sagte Feldberg »hast du’s immer noch nicht geschnallt? Der hat keine Eier in der Hose, dein Felix. Nimm den Genossen mit der Gitarre. Ganz anderes Kaliber. Der Mensch hat Charakter! Als seiner besseren Hälfte plötzlich einfiel, Beschwerdebriefe an den obersten Komsomol zu schreiben, hat er sie nicht sitzenlassen. Gab keine Feinstrumpfhosen zu kaufen, und da hat sie geglaubt, wenn sie sich beschwert, werden die sie sofort mit einer Sonderlieferung aus dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet versorgen. War aber nix. Ein paar Verhöre haben die beiden sich dafür eingefangen. Der große Bruder ist da nicht fein. Die hätten sie auch für immer einbuchten können. Aber er hat zu ihr gehalten, trotz Schwierigkeiten. Hat sich einen Kopf gemacht, hatte irgendeine Ausrede parat, Nervenzusammenbruch, zu viele Schlaftabletten, irgendwas«, sagte Feldberg. »Und wie schön er da jetzt singt.«
»Ich hab niemanden in Schwierigkeiten gebracht.«
»Sag ich doch. Hätte nicht einzuknicken brauchen, das Weichei. War alles auf gutem Wege. Hätte seinen Vorgesetzten nur sagen müssen, dass er für dich die Hand ins Feuer legt.«
»Du lügst.«
»Und deine Eltern«, sagte Feldberg, »lügen die auch?«
Die letzten Lichtpunkte im Grill verloschen.
»Du würdest Felix nicht zum Freund haben«, sagte Inez nach einer Weile. »Wenn das stimmt.«
»Man muss nicht alles mögen. Das ist wie in der Liebe. Keine so große Sache. Man kann immer sagen: Schwamm drüber.«
Sie hatte Erik das Portemonaie zurückgegeben, ohne ihm etwas zu sagen. Sie hätte nicht gewusst, was.
In den Morgenstunden lag sie wach. Die Lummen hatten die Felsen verlassen. Wenn das Meer sich aufwarf und laut gegen die Felsen schlug, drang die Stille in den Schlaf. Keine Schreie, kein sich aufschaukelnder Lärm, nur das gleichmäßige Anrollen und Abfließen der Wellen auf dem steinigen Strand. Seit Erik regelmäßig bei ihr übernachtete, hörte sie ihn neben sich atmen, sobald sie erwachte. Sie wachte im ersten Dämmerlicht auf. Sie musste nicht mehr zu den Vögeln in die Felsen, aber ihr Körper hatte sich noch nicht wieder an den neuen Rhythmus gewöhnt. Sie beobachtete Erik, wie er schlief. Der Morgen blass auf seinem entspannten Gesicht. Der über die Stirn gelegte Arm. Seine Hände. Jeden Morgen, wenn die Stille sie weckte, lag sie da und sah ihn an. Sie sagte ihm nichts davon. Aber sie konnte sich nicht an ihm sattsehen.
Sie strich ihm durchs Haar.
Ihr kam der Gedanke, dass sie ihn nicht wegen der Schönheit seiner Stirn oder seiner Hände betrachtete. Sie betrachtete ihn, weil sie sich vergewissern wollte. Sie versuchte, den Gedanken zu verwerfen, und vergewisserte sich doch wieder und wieder. Und mit jedem Mal sah sie den Älteren sich stärker im Jüngeren abzeichnen. Es kam ihr vor, als hätte der eine Körper sich dem anderen eingeschmiegt, als würde der eine Körper langsam aus dem anderen heraustreten. Das war unsinnig. Es war bloß eine Einbildung, so wie die Sternbilder Einbildung waren. Die Ähnlichkeit der beiden Körper existierte nur für sie. Nur für sie fügten sich die Linien von Eriks Körper neu. Nur für sie ergaben der Schnitt seiner Nase, seiner Augen und seine Art,
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