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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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auf dem Rücken zu liegen, ein Bild, das den Körper von Felix täuschend ähnlich darstellte.
    Sie schob sich an Erik heran. Sie hielt ihn fest. Er regte sich im Schlaf. Sein Arm rutschte ihm von der Stirn. Er legte ihn um ihre Schultern, als wolle er ihr versichern, dass alles in Ordnung war. Dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Und es war alles in Ordnung.
    Sie zog die Knie an und versuchte zu schlafen. Die Brandung schlug an den Strand, der Morgen hängte das Zimmer zwischen die Wände zurück, und sie roch seine Haut, sie hörte Erik atmen und versuchte sich zu beruhigen, während von der Terrasse grölende Stimmen zu ihr herüberklangen
Auf, au
f
Verbrannte dieser Erde!
und der saure Dampf aus dem Magen in ihre Atemwege gelangte und sie in eine neue Konvulsion hineinriss. Sie spürte das Kind im Bauch. Es war Herbst, man konnte es schon sehen. Auf der Terrasse schwang der Lampion wild hin und her, Feldberg packte seinen Hund, und als sie sich duckte, um von der Schärfe dieses Lichts nicht zerfetzt zu werden, erstarrten die Bilder, sanken zum Grund, Ablagerungen, die sie nicht mehr aufwirbeln wollte, seit sie auf der Insel war.
    Sie stand vorsichtig auf, um Erik nicht zu wecken, und ging ins Nebenzimmer. Sie öffnete ein Fenster. Kälte strömte herein. Ihr Seidennachthemd wurde in der Morgenluft eisig. Sie blieb so lange da, bis sie sicher sein konnte, dass es Erik war, den sie nebenan im Bett liegen sehen würde, nur Erik, niemanden sonst. Sie blieb, bis Felix Ton wieder einer von vielen Männern mit angegrauten Locken war, die mit glattem Aftershave-Lächeln zu den restaurierten Barockaltbauten in Potsdams Innenstadt gehörten. Sein Gesicht so geleckt wie auf dem Bild in der MAZ .
    Als sie ins Schlafzimmer zurückging, hatte Erik den Kopf in die Hand gestützt und sah sie an. »Schlaf weiter, Erik. Es ist noch zu früh, um aufzustehen. Ich habe nur seltsam geträumt.«
    Im Büro gab es viel zu tun. Die Protokolle der Tiefenmessungen, die sie mit Hilfe der Datenlogger im Juli angefertigt hatte, mussten ausgewertet werden. Die Ergebnisse würde sie in Diagramme und Tabellen übersetzen und die Schlüsse, die sie daraus zog, in eine lesbare schriftliche Form bringen. Ganze Tage verbrachte sie vor dem Computer. Sie fertigte Tabellenunterschriften an. Sie entwarf eine Gliederung. Sie machte lange Spaziergänge allein.
    Die Insel änderte ihre Farbe. Sie war in das leuchtende Gelb des Spätsommers getaucht, das in wenigen Wochen ins Grau-Braune zerfließen würde. Der Sandstein schimmerte überall durch. Auf ihren Spaziergängen fing sie an, sich Kapitelüberschriften zu überlegen. Sie notierte nichts, sie arbeitete mit dem Kopf.
Wichtig ist die Reihenfolge
, hatte ihr Vater früher gesagt,
schaff dir eine Reihenfolge, dann vergisst du auch nichts.
    Mit dem stärker schwindenden Licht veränderte sich das Meer. Es wurde schwerer. Manchmal sah es aus wie eine harte Fläche. Wenn sie bei Einbruch der Dunkelheit zurückkehrte, schien das Wasser verschwunden zu sein. Ein metallischer Streifen zog sich noch am Ufer entlang, dahinter war nichts. Selten gab es einen Stern oder ein Schiff, die den Horizont markierten. Es war die Jahreszeit, in der alles seltener wurde.
    Auf dem Plateau saßen sie kaum noch. Erik hatte die Liegestühle im Geräteraum des Leuchtturms verstaut. Wurde das Wetter noch einmal schön, setzten sie sich auf die meerabgewandte Seite ihrer Hütte. Sie trugen gefütterte Jacken gegen den Wind. Sie spürte ihn neben sich, sah in die verwaschene Sonne und fröstelte. Es war ein angenehmes Frösteln, von Eriks Körper gebremst, sobald sie sich an ihn lehnte.
    Er sagte ihr, er wolle erst Ende September nach Hause fahren. Er würde sich für Wirtschaft und Politik einschreiben, aber er wisse noch nicht genau, wo. Er habe Zusagen, sei aber noch nicht sicher, an welcher der Unis er sich wohl fühlen würde. Sie nickte. Sie hatte damit gerechnet, dass er schon in den nächsten Tagen aufbrechen würde. Noch immer erschien es ihr wie ein Wunder, dass er so hartnäckig war, dass er sogar darüber nachzudenken schien, wie es weitergehen könnte mit ihnen.
    Sie vertraute nicht darauf, dass es weiterging. Sie würde sehen, wie es sich entwickelte. Sie war aber auch nicht beunruhigt. Sie mochte es, neben ihm zu sitzen und ihn reden zu hören und für eine Weile diesen merkwürdigen Verschiebungen zu entkommen, denen sein Körper in ihrer Vorstellung jetzt manchmal ausgesetzt war. Sie legte den Kopf an

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