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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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geschah außerhalb ihrer acht Quadratmeter, jenseits der Welt, deren Ausmaß jetzt durch eine Armlänge bestimmt war, ein paar Zentimeter Haut, die vom Handgelenk bis zum Ellbogen mit schlafmattem schwarzen Haar bedeckt waren. Sie zog den Arm eng um ihre Brüste und hielt sich, bis sie wieder einschlief, daran fest.
    Auch Felix Ton hatte an diesem Tag die Vorlesungen geschwänzt, was bestimmte Stellen sofort erfuhren. In Greifswald wurde ein Eintrag im Klassenbuch wegen unentschuldigten Fehlens gemacht.
    »Sag deinen Eltern, die Kupplung hatte sich festgefressen oder Reifenpanne, und du musstest den Zug nehmen«, hatte Felix gesagt, als er sie nachmittags vor der Haustür absetzte.
    Ihr Vater war noch in der Schule. Ihre Mutter war auf Arbeit. Im Flur lag ein Zettel auf der Kommode.
Solltest du vor uns da sein, geh bitte
2
x Milch einkaufen!
    Sie sah den Zettel eine Weile an. Er lag neben einer Rolle Pfefferminzbonbons. Inez setzte die Mütze ab. Sie hatte keine Lust, Milch einzukaufen. Sie hatte keine Lust, überhaupt an Milch zu denken oder ans Einkaufen oder daran, weiter jeden Morgen Kakao zu trinken, als wäre nichts geschehen. Sie war kein Kind mehr.
    Sie stülpte die Mütze über die Lampe in ihrem Zimmer. Das Licht wurde mild und blau und machte das Vogelposter an der Wand schattig. Im Schatten wirkte der Arara so echt wie in ihrem Traum. Sie schaltete das Radio an und warf sich aufs Bett. Sie suchte nach Musik, die die gleiche Tonlage hatte wie ihr Inneres, und stellte laut. Viel Zeit für diese harmonische Übereinstimmung zwischen ihr und dem Universum blieb ihr allerdings nicht.
    »Bist du dir darüber im Klaren, dass du dir mit deinem Verhalten selbst am meisten schadest?«, sagte ihr Vater, bevor er die Schultasche abgelegt hatte.
    »Weil ich mir beim Küssen eine ansteckende Krankheit hole?«, sagte sie. »Man wird in diesem Staat doch gegen alles geimpft. Pocken, Mumps, Keuchhusten, Diphtherie, Heuschnupfen. Man ist doch rundum immun!« Wegen der Lautstärke des Radios musste sie schreien. Aber dann war ihre Mutter an ihrem Vater vorbeigestürmt und hatte so heftig auf den Einschaltknopf gedrückt, dass das Gerät zu Boden fiel.
    »Ihr müsst ja nicht gleich meine Einrichtung demolieren«, hatte Inez in die Stille hinein gesagt.
    »Mein liebes Fräulein! Mit deinen Eltern redest du nicht in diesem Ton.« Ihre Mutter hatte vergessen, die Schuhe auszuziehen. Die Absätze drückten sich in den Teppichboden, sandfarbene Auslegware, die schwer zu bekommen gewesen war. Straßenschuhe wurden gewöhnlich im Treppenhaus ausgezogen. Sie wurden in die Kommode gestellt, aus der Inez einmal in der Woche den Schmutz fegte. Das Ausfegen der Kommode bedeutete, alle Schuhe auszuräumen, sie auf die im Flur ausgebreitete
Freie Erde
zu bugsieren, in der gerade der
30
. Jahrestag der Gründung der Kampfgruppen der
Arbeiterklasse
gefeiert wurde und
Vertreter der dreißig motorisierten Bataillone, der vierhundertachtundzwanzig motorisierten Hundertschaften und der zweitausend nicht motorisierten Züge stolz im Gedenken an Thälmanns Rotfrontkämpferbund an der Tribüne vorbeizogen, auf der der Vorsitzende des Politbüros und weitere Vertreter der Volkskammer den Gruß der Genossen Kämpfer entgegennahmen
, das Ganze unter dem Schuhwerk zu begraben, den aufgefegten Staub einzuatmen und alle Schuhe wieder ordentlich einzusortieren.
    »Heuschnupfen ist nicht ansteckend«, sagte ihr Vater und legte seiner Frau eine Hand auf die Schulter. »Maria.«
    »Was?«
    »Wenn sie die Nächte nicht mehr zu Hause zu verbringen gedenkt, dann –«
    »Dann was«, sagte ihre Mutter zu ihrem Vater. »Dann kann sie auf Trebe gehen, wie sie will? Damit wir schlaflose Nächte haben?«
    »Dann sollten wir wissen, mit wem und wo sie die Nächte verbringt«, sagte ihr Vater zu Inez. »Vielleicht lässt sich so Schlimmeres verhindern.«
    »Wenn du mit
Schlimmeres
meinst, sich mit dem Leben anzustecken«, sagte Inez, »seh ich schwarz.«
    Ihr Vater hob das Radio auf und stellte es zurück auf den Nachttisch. Dabei blieb sein Blick an den Schuhen seiner Frau hängen.
    »Ich habe nämlich nicht vor, vor lauter Immunsein dieses Leben zu verpassen«, sagte Inez.
    »Hast du wenigstens Milch eingekauft?«, fragte ihre Mutter.
    »Wieso immer ich?«
    »Wir werden die Sache beim Abendbrot klären.« Ihr Vater legte die Hand auf die Türklinke. »Wenn du unsere Unterstützung willst, müssen wir dir vertrauen können, Inez.«
    Beim Hinausgehen musste ihrer

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