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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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seine Schulter. Erik mochte ein Grund dafür sein, diesen Winter nicht auf Gotland zu verbringen, und trotzdem war ihre Entscheidung unabhängig von ihm. Sie war lange genug hier gewesen. Die Geduld des Vereinsvorsitzenden war ausgereizt. Ihre Messungen waren abgeschlossen. Schreiben konnte sie die Doktorarbeit überall. Vielleicht würde sie sich eine Wohnung in Eriks Nähe suchen. Vielleicht auch nicht. Es blieb noch Zeit, sich das alles zu überlegen. Man musste die Dinge der Reihe nach angehen.
    Wie ihr Vater gesagt hatte. Der Reihe nach und nichts vergessen.
    Ihr Vater, als er noch nicht wusste, dass er eines Tages gern ein bisschen was vergessen hätte.
    Beispielsweise den Herbst 1983.
    Der Herbst 1983 hatte wie gewohnt mit Morgennebel und sich einfärbendem Laub begonnen. Die Fischer in Wieck trugen Öljacken. Es hatte einen frühen Frosteinbruch gegeben, und der Rosenstock, den ihre Mutter neben die Kellertreppe gepflanzt hatte, war erfroren. Die Rosenköpfe waren in der Blüte erschlafft. Inez erinnerte sich sehr gut daran. Wie die Sonne auf braunes, mattes Blattwerk schien und ein leichter Modergeruch aufstieg. Vor dem Greifswalder Kaufhaus standen die Leute nach schwarzer Schuhcreme an. Inez erinnerte sich auch an die Röhrenjeans, für die es langsam zu kalt geworden war, und an die mit Lurexfäden durchzogene, türkisfarbene Rollmütze. Sie erinnerte sich daran, dass der Panikrocker aus dem Westen in der Hauptstadt der DDR aufgetreten war, durch die einen Tag zuvor noch die Kampfgruppen der Arbeiterklasse marschiert waren, und dass es ein Dienstag war, ein Dienstag in diesem Herbst 1983, als sie mit Felix nach Berlin-Karlshorst gefahren und dann nicht nach Hause gekommen war, eine ganze Nacht nicht, und am Mittwoch war sie nicht in der Schule gewesen. In diesem Herbst hatte sie die Rollmütze fast täglich getragen. »Doller Eierwärmer«, hatte Felix gesagt und sie ihr über die Ohren gerollt, »lass die Eier nicht kalt werden.«
    Zwischen Berlin und Greifswald lagen etwa dreihundert Kilometer. Das Land wurde von Weiden und Feldern bestimmt, auf denen Getreide angebaut wurde oder Sonnenblumen. Kiefernwälder säumten den Feldrand, wo verfallene Hochstände aufgestellt waren für die Förster, die im Abendlicht, geschützt von grüner Dachpappe und Holz, Rehe beobachteten. Die Förster waren dafür verantwortlich, dass es auf der nächsten Jagd genug bewegliche Ziele gab. Auch heute sah das Land noch genauso aus. Landschaft veränderte sich langsam, dachte Inez. Braunerde und Geschiebemergel und Podsol waren noch dieselben wie damals, als sie diese Landschaft durch die Scheibe von Felix’ Wartburg gesehen hatte. Nur die Jagden waren heute nicht mehr auf das Politbüro beschränkt.
    Damals hatte so eine Fahrt vier bis fünf Stunden gedauert. Sie hatte die Nacht mit Felix im Studentenwohnheim von Karlshorst verbracht und es nicht zur nullten Unterrichtsstunde um sieben Uhr am nächsten Morgen geschafft. Sie hatte es auch nicht versucht. Sie hatte zu ihm gesagt:
Ich bleibe
, und so kam es, dass Inez die drei Moll-Sätze des Sommers aus Vivaldis
Die vier Jahreszeiten
, die gerade im Fach Musik behandelt wurden, nie hörte. Herbst und Winter hatte sie eine Woche später sehr unkonzentriert verfolgt. Sie hatte nicht zugehört, weil sie schon abgelenkt war von der nicht leicht zu verwindenden Tatsache, dass ihre Eltern und sie in der wichtigsten Sache ihres Lebens verschiedener Meinung waren.
    Zu Vivaldis Frühling saß sie noch in Hochstimmung im Neonlicht des Klassenraumes. Sie hörte, wie das Violinentrio im ersten Satz Vogelgezwitscher imitierte. Sie fand die Idee sehr schön, dass ein lebloser Gegenstand wie ein Streichinstrument die Täuschung von etwas Lebendigem hervorrufen sollte, und das Dahinschnellen der Bögen auf den Saiten mochte sie auch, aber Vögel hörte sie nicht. Vögel hörten sich anders an.
    Sie war in Karlshorst geblieben.
    Sie hatte
Die vier Jahreszeiten
sausen lassen.
    Sie hatte den Gedanken an ihre Eltern sausen lassen.
    Sie hatte ihre Zunge in den Cognac getaucht, und Felix hatte den Cognac von ihrer Zunge geküsst.
    Beim Aufwachen hatte sie der Arm eines Mannes auf ihrem nackten Bauch erschreckt. Sie hatte die karierte Bettdecke von sich geschoben und diesen Arm betrachtet und festgestellt, dass seine Schwere sie beruhigte. Draußen war es schon hell. Mülltonnendeckel krachten. Jemand rannte auf Stöckelschuhen übers Pflaster. Aber das blieb alles hinter den braunen Vorhängen,

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