Sturz der Tage in die Nacht
ihre Hand ab. Er schob sie gemeinsam mit seiner in die Jackentasche. Und auch dort wollte sie sein. Sie wollte spüren, wie sicher ihre Hand in seiner Jackentasche lag.
Sie wollte zu ihm gehören.
Das war für sie, für die Verhältnisse jeglicher Art nicht mehr in Frage kamen, ziemlich beunruhigend.
»Ein geteerter Sternenhimmel«, sagte sie, »warum nicht.«
Auch das Foto hätte sie nicht entdecken müssen. Hätte Erik sein Portemonnaie nicht eines Abends liegengelassen, hätte es das Foto nicht gegeben. Es war ein schönes Portemonnaie, eine hellbraune Brieftasche aus weichem Rindsleder. Erik hatte es liegengelassen, als er gegangen war. Er war müde gewesen, und sie hatte noch ein bisschen arbeiten wollen, und als sie die Tür hinter ihm zugemacht hatte und zum Tisch zurückgekommen war, lag das Portemonnaie neben ihrem Laptop. Sie hatte es in die Hand genommen. Sie hatte das Leder gestreichelt, und dann hatte sie es aufgeklappt, wie man ein Buch aufklappt, und hineingesehen. Mehr gab es dazu nicht zu sagen.
Sie hätte nicht hineinsehen müssen. Sie hätte es zurücklegen können. Oder wenn sie schon hineinsah, hätte sie es nicht genauer inspizieren müssen. Sie hätte das Foto in einem der Fächer nicht zu beachten brauchen. Oder wenn sie es beachtet hätte, hätte sie es dennoch stecken lassen können. Sie hätte vieles nicht tun müssen, dachte Inez und trank ein Glas Wasser.
Sie hätte es lassen können.
Das war wie mit den Sternbildern. Sie hatte Erik ein paar gezeigt, als Mitte August die Sonne schwächer und der Nachthimmel wieder dunkel geworden war. Sie hatte ihm Kassiopeia gezeigt und den Adler. Sie hätte ihm auch den Paradiesvogel zeigen können oder den Kranich, aber die waren so weit nördlich nicht zu sehen. Jedes dieser Sternbilder bestand nur aus verstreuten Sternen, die alle eine unterschiedliche Entfernung zur Erde hatten. Aber weil es so schien, als ob sie nah beieinanderlagen, hatte man sie zu einer Einheit zusammengefasst, die ein Bild ergab. Eine Täuschung. Das Bild beruhte auf Einbildungskraft. Und das bedeutete, man musste es nicht sehen. Man konnte es auch lassen.
Lass mal
, wie Ton gesagt hatte.
Lass mal und zieh dich wieder an.
Und jetzt lag das Portemonnaie auf dem Tisch. Außer dem Foto enthielt es ein paar Hundert-Kronen-Scheine, eine EC -Karte, einen Führerschein und zwei Zeltplatzquittungen.
Inez trank das Wasser und spürte den Sprudel im Mund.
Das Foto war eine Schwarz-Weiß-Aufnahme. Auf dem Foto war ein ernstes Mädchen zu sehen. Sie hatte die Augen gegen die Sonne zusammengekniffen. Die Klamotten saßen schlecht. Die kurzärmelige Bluse und der schlabbrige Rock wirkten ärmlich, und das Band im Haar verstärkte diesen Eindruck noch. Aber das Mädchen schien zu glauben, das Haarband mache sie todschick.
1984.
Als geschlitzte Röcke in Schwarz, Weiß oder Grau in Mode waren, betonte Taillen und breitschultrige Jacketts. Als sich das Mädchen auf dem Bild noch schön fand. Sonst hätte sie nicht dieses, sondern ein anderes in das Innenfutter des Beutels genäht, den sie später der Stationsschwester übergab.
Da ist ein Strampler drin und Spielzeug. Ein paar Sachen soll er doch haben.
Machen Sie sich mal keine Sorgen
, hatte die Schwester gesagt,
dem wird schon nichts fehlen.
Das Foto in der Brieftasche war das, was die Person, die Inez mit fünfzehn oder sechzehn gewesen war, mit der, die sie heute war, unwiderruflich verband.
Finnse nicht so
, hatte ihre Mutter gesagt, bevor sie auf den Auslöser drückte,
sonst denkst du später noch, du hättest als Jugendliche einen Silberblick gehabt.
Ihre Mutter hatte das Foto an einem Sonntagmorgen aufgenommen. Es war der Beginn eines Ausflugs zu einem Kloster aufs Land. Ihre ganze Kindheit bestand aus Ausflügen zu Klöstern aufs Land.
Ihr Vater pumpte im Keller die Räder auf. Inez weigerte sich, ihm zu helfen, ihre Mutter hatte einen schlappen Arm. Sie hatte in der Betriebssportgruppe zu viel Tischtennis gespielt.
So war das gewesen.
Das Foto hatte noch Restwärme von Eriks Jeans. Er trug das Portemonnaie normalerweise in einer der Gesäßtaschen.
Draußen wurde es dunkel. Der Strand war leer. Sie tauschte die Brahms- CD im Player gegen eine CD aus, die Erik ihr gegeben hatte. Das war eine Handlung, an die sie sich kurz darauf nicht mehr erinnerte. Jedenfalls war sie überrascht, dass die Musik schon lief, als sie einige Minuten später den Gedanken hatte,
Brainbug
einzulegen.
Der Song dauerte sieben
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