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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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Minuten. Es war Musik, die ihr fremd war, treibende Sounds, aufpeitschende Percussion, kathedralische Echos ohne Gesang. Es war Musik, die Erik beim Radfahren hörte. Er verstöpselte sich die Ohren damit, und es gefiel ihr, ihn sich mit Stöpseln im Ohr auf einem weißen Rennrad vorzustellen. Sie saß auf der Couch und ließ das Lied laufen und stellte fest, dass das nächste Lied sich vom vorherigen fast nicht unterschied. Die ganze CD bestand aus denselben elektronisch hochgepeitschten Klängen, die ein Witzbold mit Mönchsgesängen abgemischt hatte. Sie saß da und zog ein Bein unter ihren Schoß und hörte sich das an, und das Mädchen im Faltenrock passte nicht dazu. Gehörte nicht hierher.
    Das Mädchen, die mit sechzehn Mutter eines Jungen geworden war, und sie, Inez, die mit diesem Jungen schlief, konnten nicht ein und dieselbe sein. Das schien eine nicht ganz logische Verknüpfung.
    Ein Fehler.
    Eine Ungeheuerlichkeit.
    Eine Frechheit, eigentlich. Etwas, das allein
auf Feldbergs Kappe
ging, wie Feldberg das gern formulierte.
    Er wird fünfundzwanzig, Inez. Das sind genau sechzehn Jahre. Ist dir das noch nicht aufgefallen?
    Das Foto war in Eriks Portemonnaie geraten, weil es jemand dort hineingetan haben musste. Nicht Erik. Jemand anders.
    Den ganzen Abend hörte Inez die aufpeitschende Musik.
    Bevor sie sich schlafen legte, steckte sie das Foto zurück. Im Portemonnaie hatte es fast kein Gewicht.
     
    »Das geht auf meine Kappe«, hatte Feldberg in jener sternenlosen Nacht vor Jahren auf der Terrasse seiner Datsche gesagt. Es war die Nacht, in der Inez über dem Plumpsklo gehangen hatte und Ton hinter ihr hergekommen war mit einem Stück Toilettenpapier, damit sie sich den Mund abwischen konnte. Sie war an ihm vorbeigerannt, hinaus zum Kompost, ein aufgeschütteter Haufen aus Kartoffelschalen und faulendem Brombeergeäst, und ihr Magen hatte sich beruhigt. Als sie zurückkehrte, war Ton verschwunden. Die Fete war vorbei. Das Feuer im Grill brannte herunter.
    Sie hatte sich an den Rand der Terrasse gesetzt, wo Feldberg sich von einem Mann in hellblauem T-Shirt ein russisches Lied beibringen ließ. Alle anderen waren gegangen. Der Russe sang immer wieder die drei gleichen Strophen, den Refrain sang Feldberg schon mit. Sie hatte zu ihm hinübergeschaut, und er hatte seinem Mitsänger auf die Schulter geschlagen und ihr eine Decke aus der Datsche geholt. Der Plastevorhang klapperte.
    »Na, besser?«
    Sie hatte ihm die Decke abgenommen und sich um die Schultern gelegt und über die angezogenen Knie, und der Garten hatte im Dunkeln keine Grenze.
    »Wundern tut’s mich nicht. Kein Vertrauen in sich selbst, überkandidelte Ansprüche, krankhafter Ehrgeiz, plus ein scheiß Elternhaus.«
    Der Zaun war von einer Buchsbaumhecke zugewachsen, die den Garten vor den Blicken Vorbeilaufender schützte. Aber weder die Buchsbaumhecke noch der Zaun waren zu sehen.
    »Ist doch egal.«
    »Soll ich dir einen Stuhl holen?«
    »Ich will nach Hause.«
    »Klaro.« Feldberg hatte sich neben sie gesetzt. »Sind wir Freunde?«
    Der Garten hatte nichts preisgegeben. Da war überhaupt nur noch ein Garten, wenn man wusste, dass da einer war, und die Steine der Terrasse waren kalt.
    »Damals mit der Wippe«, sagte er, »das war Scheiße. Ich hab’s vermasselt.«
    Sie hatte versucht, sich die Enden der Decke unter den Hintern zu klemmen.
    »Ich hab’s eben nicht so mit Turteln. Ich bin da nicht so geschickt«, sagte Feldberg. »Nicht wie dein Satellit. Dein verglühter Satellit.«
    Die Decke war zu kurz. Wenn sie die Enden unter sich schob, lagen die Knie frei.
    »Wenn du willst, kannst du hier pennen.«
    »Fahr mich nach Hause.«
    »Bisschen viel gepichelt. Kann kaum noch gradeaus gucken.«
    Der einzige Lichtpunkt in der dunklen Fläche des Gartens waren die langsam verglimmenden Holzreste in der Metallschale des Grills.
    »Du bist doch sein Freund«, sagte sie. »Du kannst doch mit ihm reden.«
    »Fürchte, das wird nichts.«
    »Wieso?«
    »Weil das auch ein bisschen auf meine Kappe geht, was heute passiert ist.«
    »Du meinst, es ist deine Schuld?«
    »Na ja. Im Großen und Ganzen hat diese Kiste hier viel weniger mit dir zu tun, als du denkst.«
    »Und das traust du dich, mir zu sagen –«
    »Nicht alles ist immer durchschaubar, Inez. Auch der Sozialismus nicht. Da geht’s nicht ohne Widersprüche ab, verstehste? Theoretisch schon. Theoretisch ist das alles auf höherer Ebene auflösbar. Es entspricht bloß nicht dem Boden der

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