Sturz der Tage in die Nacht
Mutter eingefallen sein, dass sie Füße besaß. Sie hatte sich mit einer Hand im Türrahmen festgehalten und mit der anderen die seitlichen Reißverschlüsse an beiden Stiefeletten aufgezogen. Ihre Mutter hatte das Zimmer auf Socken verlassen. Daran erinnerte sich Inez. Und dass das damals ein kleiner Triumph gewesen war.
Eine Klärung gab es an diesem Nachmittag nicht. Eine Elternbeiratssitzung kam dazwischen, und Maria Rauter musste zum Friseur. Eine Klärung gab es auch zwei Tage später nicht, jedenfalls nicht im Sinne dessen, was Inez damals unter einer Klärung verstand: andere von den eigenen Ansichten zu überzeugen. Von ihrer Sicht auf die Welt, die für sie eine halbe Armlänge maß und mit schwarzem Haar bedeckt war.
Ihrer Klassenlehrerin hatte sie für den versäumten Schultag nachträglich eine Krankschreibung übergeben, die ihre Mutter bei der befreundeten Hausärztin organisiert hatte. »Kommt sie jetzt schon in dieses Alter«, hatte die Ärztin zu ihrer Mutter gesagt, die das zusammen mit einem Päckchen Kondome an Inez weitergeleitet hatte.
»Wieso geht’s hier eigentlich dauernd um mein Alter? Ich bin alt genug zum Staubfegen. Ich bin alt genug, um mit meinem Arsch im Schlamm für den Weltfrieden zu kämpfen. Aber verlieben darf ich mich nicht? Ich will dir mal was sagen: Vor ein paar Jahrhunderten wäre ich längst verheiratet gewesen!«
Ihre Mutter hatte das Päckchen
Mondos
neben Inez auf den Bettrand gelegt. »Ganz generell fände ich es besser, wenn du das ab sofort einstecken hast.«
Einige Tage später wurde sie von ihrem Vater ins Wohnzimmer gerufen. Aus Protest setzte sie sich auf den Boden. Ihr Vater hatte Schwarztee gemacht. Ein Glas Honig stand auf dem Tisch. Ihre Mutter sortierte einen Stapel alter Postkarten aus; Urlaubspostkarten, Weihnachtspostkarten, Geburtstagsgrüße der letzten fünfzehn Jahre.
»Andere Eltern machen nicht so einen Aufstand, wenn ihr Kind einen Freund hat«, sagte Inez und zog die Knie an den Körper.
»Andere Kinder haben entweder weniger besorgte Eltern oder Freunde, die zu ihnen passen«, sagte ihr Vater. Er trug noch die Krawatte, mit der er vom Unterricht gekommen war.
»Wollt ihr im Periodensystem der Elemente nachgucken, wer zu mir passt?«, fragte Inez und sah zu, wie ihr Vater den Teelöffel ins Honigglas tauchte. »Habt ihr nicht alles dafür getan, mich als selbständigen Menschen zu erziehen? Als jemand, der weiß, was richtig ist? Und solange es sich gut anfühlt, ist es richtig.«
»Fehleinschätzung«, sagte ihr Vater.
Inez betrachtete den Löffel, der im Honig schön golden wurde.
»Er hat vielleicht einen Spleen«, sagte sie dann.
Ihre Mutter sah von den Postkarten auf. »Er hat einen Spleen?«
»Ja. Und manche Leute macht das sympathisch.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob du die Sache von der richtigen Seite angehst«, sagte ihr Vater.
»Auf jeden Fall ist er nicht so ein risikoscheues Arschloch wie die meisten.«
»Eines möchte ich hier mal klarstellen«, sagte ihre Mutter. »Unsere Tochter geht mit einem von der
Firma
und nennt das einen
Spleen haben
?«
»Maria.«
»Ein Exzentriker mit Weltschmerz? Ein Sensibelchen mit Marotten? Das meinst du doch.«
»Er studiert Außenhandel«, sagte Inez. »Was ist daran so schlimm?«
»Dieser Florian oder Ferdinand horcht Leute aus, weil das seine Marotte ist?«, sagte ihre Mutter zu ihrem Vater. »Oder ist er Melancholiker und kann seiner Melancholie nur dadurch Herr werden, dass er anderer Leute Leben zerstört? Meint sie vielleicht das?«
»Sie meint, er hat sich noch nicht entschieden«, sagte Inez’ Vater.
»Ich würde das nicht einen
Spleen
nennen, sondern einen Schlagschatten.«
»Er trägt noch einen inneren Kampf aus«, sagte ihr Vater.
»Da du auf einmal Partei für diese Leute ergreifst, Hans, sag ihm, er soll sich mal in einen Raum setzen, der innen keine Türklinke hat.«
»Sie meint, er liebäugelt zwar mit dem Gedanken, kann sich aber noch jederzeit dagegen entscheiden, nicht wahr, Inez?«
»Ihr wollt es einfach nicht wahrhaben«, sagte Inez. »Ich bin eine erwachsene Frau.«
»Er soll sich in einen Raum ohne Türklinke und Fenster setzen, und zwar als Häftling, dann geht das Entscheiden ruckzuck«, sagte ihre Mutter. Sie riss zwei Postkarten durch und legte sie auf den Wegwerfstapel.
Ihr Vater ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. Er sah Inez an.
»Felix Ton hat mich vor einiger Zeit besucht«, sagte er schließlich. »Er hat mich dazu aufgefordert,
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