Sturz der Tage in die Nacht
mich in die Rolle des Wahrheit Suchenden zu begeben. So nannte er das.«
»Eine ziemlich
spleenige
Formulierung für so einen Jungen«, sagte Maria Rauter.
»Ich weiß nicht, wie oft man dich noch mit der Nase drauf stoßen muss, Inez«, sagte Hans-Christian Rauter.
»Ich werde nicht ewig Mami und Papi fragen, wie man sein Leben lebt«, sagte Inez zu niemand Bestimmtem. Sie betrachtete den Löffel im Honig. Es kam ihr vor, als wäre Honig noch nie so golden gewesen.
Alles ging der Reihe nach. Zuerst kamen die vernünftigen Auseinandersetzungen, dann eine Verschärfung des Tons, begleitet vom Umwerfen gefüllter Teetassen und Türeschlagen, besänftigt von stundenlangen Weinkrämpfen, und schließlich kürzte Enttäuschung das Ganze ab.
Enttäuschung darüber, wie wenig man verstanden wurde. Wie sehr man in sich eingeschlossen allein im Universum war.
Die freiwillige Einzelhaft, die Inez von nun an in ihrem Zimmer verbrachte, bestätigte diese Erkenntnis. Abends aß sie für sich. Wenn sie ihren Eltern auf dem Weg zum Kühlschrank begegnete, war ein steifes
Gute Nacht
das Einzige, was sie über die Lippen brachte.
Die Dinge der Reihe nach anzugehen hatte ihrem Vater damals nichts genützt. Sie war ausgezogen. Sie hatte sich abgeseilt. Abgenabelt. Aber wie immer sie das in den Jahren danach auch bezeichnet hatte, es war auf dasselbe hinausgelaufen, und als es Herbst auf der Insel wurde und die Tage kürzer, spürte Inez, dass es auch ihr jetzt nichts nützen würde.
Sie lief weit hinüber auf die andere Seite von Stora Karlsö, nach Suderslätt, nach Stordal und Roisu haid, wo eine Eiche stand, die nach dem Naturforscher Linné benannt war. Sie lief zur Südspitze der Insel, an der es vor tausend Jahren einen zweiten Hafen gegeben hatte. Jetzt gab es dort eine weite, schwach zum Meer hin abfallende Wiese. Mädesüß, Wiesenkerbel und wilder Thymian wuchsen zwischen Windröschen und Schafschwingel. Die Wiese glänzte rosa-violett.
Manchmal kam Inez auch an jener Stelle vorbei, an der sie die Tordalke begraben hatte. Sie überprüfte, ob der Sandhügel noch nicht vom Wind abgetragen worden war. Sie blieb eine Weile dort. Bevor sie ging, legte sie einen frischen Wacholderzweig auf das Grab. Aber alles das nützte nichts.
Sie hatte schon angefangen, im Internet nach einem Foto des erwachsenen Sohnes zu suchen, Arm in Arm mit dem Vater, über ihren Köpfen der Slogan einer Wahlkampfveranstaltung. Sie hatte angefangen, sich ernsthaft zu wünschen, der Sohn möge bei seinem Vater sein, dieser Sohn, den sie nur anhand der Bildunterschrift hätte identifizieren können. Die Abmachung, die sie mit Felix geschlossen hatte, war ihr egal geworden. Sie wollte Erik wieder so unbefangen ansehen können wie zuvor. Sie wollte ihn nicht mehr als Sternbild eines anderen wahrnehmen, nicht länger gegen die Verschiebungen seines Körpers kämpfen. Ein Zeitungsbericht, in dem ein Vater seinen Sohn glücklich in die Arme schloss, wäre die einfachste Lösung gewesen.
Sie fand viele aktuelle Bilder von Felix Ton. Von einem Sohn fand sie nichts.
Sie rief im ehemaligen Rostocker Kreiskrankenhaus an. Sie fragte nach der Säuglingsschwester, die sie damals betreut hatte und deren Name auf einmal wieder da war, aber die Säuglingsschwester war nicht mehr da.
Sie fing an, Erik auszuhorchen. Sie fragte ihn wie nebenbei nach seinen Kinderkrankheiten. Sie fragte ihn, ob er als Kind viel gehustet habe. Sie fragte ihn, ob er diesen beschleunigten Herzschlag kenne, der den Anschein erwecke, das Herz sei in die Kehle gerutscht. Sie war wie gelähmt, als er das bejahte.
Mit anderen Worten: Langsam verlor sie den Verstand.
Eines Morgens erwachte sie spät. Es war nach zehn. Sie ging ins Bad. Sie duschte, machte Kaffee, öffnete weit das Fenster. Der Vereinsvorsitzende hatte sie seit längerem in Ruhe gelassen. Die Einstellung der Heizungsanlage im Museum hatte sie wie immer überprüft, die letzten Berichte pünktlich abgeliefert. Zu Guido war sie freundlich gewesen; ein Beschwichtigungsversuch, kein Streit. Auch der letzte Abend war normal verlaufen. Erik hatte ihr aus dem Internet Musik heruntergeladen, sie hatten die Nacht getrennt verbracht, das kam vor.
Inez hielt sich für jemanden, der Strategien entwickeln konnte, um Gefühle beherrschbar zu machen. Der sich erfolgreich dagegen wehren konnte, dass das Leben untergründig bestimmt wurde von toten Flächen, wie es sie in der Ostsee gab.
Sie ging ins Schlafzimmer. Sie schloss das
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