Sturz der Tage in die Nacht
Fenster. Die Fähre würde in einer Stunde anlegen. Sie wollte vorher noch ins Büro. Sie musste an die Praktikantin und die Scouts die Aufgaben verteilen. Sie musste die Lieferlisten abzeichnen und die Reinigung der Messinstrumente organisieren, und sie wollte pünktlich am Kai sein. An diesem Morgen reiste ein Ehepaar an, das ein Jubiläum feierte. Trotz des schlechten Wetters wollte es zwei Tage auf der Insel bleiben und hatte für den Abend ein Vier-Gänge-Menü im Restaurant inklusive Tischschmuck bestellt.
Inez räumte den Kaffeebecher in die Geschirrspüle. Sie zog sich eine altrosa Strickjacke unter ihren Wattemantel.
Leichter Nebel hing über dem Strand. Der Horizont war hellrot. Das fiel ihr auf, dieser Widerschein der ersten hereinbrechenden Kälte am Morgen, weit draußen über dem Meer, der später von grauem Niesel verwischt wurde. Die Felswand von Norderhamnsberget war schwarz. Der Stein strahlte Kälte ab. Die Luft schmeckte salzig. An der Landspitze hatten sich seit dem Sommer junge, lichthungrige Bäume ausgebreitetet, Erlen, Weichselkirschen, Bast. Sie würden Schutz bieten vor dem Wind. Sie waren ein wichtiger Beitrag zur Uferbefestigung.
Man konnte den Verstand verlieren oder auch nicht.
Inez sah aufs Meer.
Flint
Ich bin auf der Fähre auf dem Weg zurück. Es ist zu kalt, um an der Reling zu stehen. Der Wind bläst stark. Ich sitze im Passagierraum. Ich bin der einzige Passagier bis auf den Ornithologen, der im nächsten Jahr den Job von Inez übernehmen wird. Wir reden nichts. Er ist Schwede, und es gibt nichts zu reden. Ich versuche, mich auf die Akten zu konzentrieren, die in Feldbergs lederner Arzttasche steckten. Ich habe sie vor mir ausgebreitet, und der Schiffsmotor lässt sie vibrieren.
Kaum eine halbe Stunde ist es her, seit ich Inez das letzte Mal sah. Sie hat am Strand gestanden, als die Fähre ablegte. Sie hat sich umgedreht und ist über die Kiesel gegangen. Sie ging hinauf zum Café. Sie hat nicht zurückgeschaut. Sie hat die Tür des Cafés hinter sich zugemacht. Inez dreht sich um, sie geht den Strand hinauf. Sie wird den Strand hinaufgehen und die Tür hinter sich zumachen. Eine halbe Stunde oder eine Ewigkeit. Alles das geschieht noch immer.
Noch immer ist es Herbst. Noch immer überwiegen Tage, an denen die Sicht im Nieselregen verschwimmt. Schon nach dem Tod der Tordalke schien es mit dieser Unausweichlichkeit Herbst geworden zu sein, die Jahreszeiten an sich haben und die sich im Grunde nicht von jener Unausweichlichkeit unterscheidet, mit der diese Geschichte, die zufällig meine ist, ihren Lauf nimmt, egal, wie lange ich versuche auszuweichen.
An jenem Nachmittag, als wir zu dritt im Museumscafé saßen, Inez, Guido und ich, war die Luft nasskalt. Der Regen war so fein, dass er der Gischt ähnelte, die über den Kai sprühte. Er setzte ein und hörte auf und begann erneut. Er tropfte mir aus den Haaren. Er rann mir die Schläfen hinab. Dieses Gefühl ist so deutlich, als würde es im Augenblick geschehen.
Und doch kann es genauso gut sein, dass ich es nachträglich einfüge, dass ich damals nicht darauf achtete. Ende August oder Anfang September. Erst jetzt, da ich versuche, alles in eine Ordnung zu bringen, fallen mir solche Details wieder ein, da ich alles so sehen will, als wäre es eine Geschichte mit Anfang und Ende und einer inneren Zwangsläufigkeit.
Nicht alles lässt sich rekonstruieren.
Nicht, weil ich mich nicht erinnern kann oder nicht genügend Informationen habe, oder weil alles, was ich zu rekonstruieren versuche, am Ende nur eine Annäherung ist, sondern weil sich mir bestimmte Dinge nicht erschließen. Ich habe Feldbergs Tasche, aber seine Akten geben nicht alles preis. Ich habe Mühe zu verstehen, wie Inez sich in einen wie Felix verlieben konnte.
Resultat eines Ficks in der Kartoffelernte
. Als er sich für die MAZ ablichten ließ, trug er ein Hahnentrittjackett unter dem Mantel. Auf Fotos im Internet trägt er rosafarbene Hemden und Halstücher, die aus dem obersten geöffneten Hemdknopf quellen. Im Internet tritt er als Geschäftsführer einer Immobilienfirma auf, die sich auf Seegrundstücke und Villen spezialisiert hat. Laut Feldbergs Akten führt er noch ganz andere Geschäfte. Unter anderem soll er Hauptgesellschafter einer Hotelbetreibergesellschaft sein, die von seiner Immobilienfirma Grundstücke zu überhöhten Preisen kauft. Verkäufe, die vom Staat hoch subventioniert werden, da sie zur Belebung der regionalen Wirtschaft beitragen,
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