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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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Flechten und den grünleuchtenden Schwamm. Im Dunkeln war dort nur eine verwaschene graue Wand. Es war diese Wand, die die Küken der Trottellummen sahen, nachdem sie geschlüpft waren. Diese Wand war für sie die ganze Welt; eine Welt aus rauem Gestein, durchsetzt von fossilen Abdrücken. Endlos ragte sie vor ihnen auf, unveränderlich, unverrückbar, schwarz metallisch, mit schroffen Kanten, von der sich im dunkel spiegelnden Glas des Fensters mein Gesicht abhob. Tagelang wurden die Küken von ihren Müttern gegen diese Felswand gedrängt, von weichen Bäuchen beschützt und beengt. Sie lebten in dumpfer Geborgenheit. Sie ahnten nichts von der Tiefe im Rücken, in die die Schwanzfedern der Mütter schon hineinragten. Sie ahnten nicht, dass sie in Kürze, wenn ihnen das graue Gestein nicht mehr den Blick versperrte, in die Tiefe fallen würden. Sie ahnten nichts von dieser Tiefe, die mit dem Fallen erst entstand. Sobald das schützende Hindernis in ihrem Rücken verschwand und sie frei kamen, taumelten sie geblendet zur Kante, und die Leere dahinter nahm ihnen die Luft.
    Sie stürzten. Gelockt von den Wasserrufen der Alten. Hungrig beobachtet von den kreisenden Möwen. Abgetrieben vom Wind.
    Inez kam aus dem Schlafzimmer, steckte ihr Haar mit der Haarnadel fest und sagte: »Das Einzige, was dieses Arschloch von den anderen unterscheidet, könnte mit dir zusammenhängen.«
    Die Küken konnten das Fallen nicht aufhalten oder steuern. Sie hatten keine Vorstellung davon, bevor es geschah.
    »Für Ton hat es in seinem Leben nicht den geringsten Unterschied gemacht, ob er ein Kind hatte oder nicht. Es hat ihn höchstens belastet.«
    Sie stürzten ab.
    »Jetzt braucht er eine passende Vergangenheit.«
    Ich spürte Inez, die hinter mir stand.
    »Darum ging es in diesem Artikel in der MAZ .«
    »Ich kapier’s nicht.«
    »In eurer Saufnacht, da hat Feldberg dir was zugesteckt.«
    »Der Hundeficker?«
    »Du glaubst mir also.«
    »Ist mir scheißegal, und wenn er Fliegen ficken würde!«
    »Es ist mir ernst.«
    »Du bist betrunken.«
    »Wir haben miteinander geschlafen«, sagte sie leise. »Es kann dir nicht egal sein.«
    »Was soll er mir denn
zugesteckt
haben? Seine Visitenkarte?«
    »Ich habe in deinem Portemonnaie nachgesehen.«
    »Nennt man das in deiner Welt nicht
schnüffeln

    »Die Frau auf dem Foto«, sagte sie.
    »Du hast was?«
    »Ich habe das Foto in deinem Portemonnaie gesehen.«
    »Ist das deine Art, Leute loszuwerden?«
    »Warum hat er es dir gegeben?«, fragte sie. »Was hat er dir gesagt?«
    »Oder ist das eines von diesen scheiß Psychospielen, die man euch im Osten beigebracht hat?«
    »Die Frau auf dem Foto bin ich.«
    Ich lachte. »Und auf diesen Scheiß soll ich
rein
fallen? Das ist ja
krank

    »Ich hab dir gesagt, es wird weh tun.«
    Das Lachen prallte an der Felswand ab, kam als Echo zurück.
    »Ich wünschte,
dir
würde es wenigstens
leid
tun.«
    »Das tut es.«
    »Mir auch. Und wie. Mir tut es
scheiß
leid, dass ich dieses
Scheiß
schiff bestiegen hab.«
    »Was hat er dir gesagt, Erik? Ich muss das wissen.«
    »Warum? Weil du so eine
Scheiß
angst vor ihm hast?«
    »Hier. Trinken hilft nicht. Aber es dämpft.«
    Ich schlug ihr das Glas aus der Hand. Der Wein flog. Er machte einen langsamen roten Bogen in der Luft.
    »Weißt du überhaupt, was du da für eine Scheiße redest«, sagte ich.
    Der Wein traf klatschend die Wand.
    »Ich hätte uns das gern erspart.«
    »Hast du aber nicht. Du hast dir was richtig Gutes einfallen lassen. Du solltest aufpassen, dass du auf deiner zugekackten Insel nicht langsam eine weiche Birne kriegst.«
    »Erik.«
    »Weißt du, was mir richtig scheiße leidtut? Dass du dir ausgerechnet mich ausgesucht hast.«
    »Ich hab dich nicht ausgesucht, Erik. Wovon redest du?«
    »Beweis es mir«, sagte ich.
    »Was?«
    Wir standen nah voreinander, im Rücken die Wand. Ich konnte sie spüren, das raue Gestein, die Wucht, mit der sie aufragte, ihren massiven Druck.
    »Beweis mir, dass du das bist.«
    »Was bin?«
    »Beweis mir, dass du das auf diesem Foto bist!«
    Es war still. Sie starrte mich an.
    »Ich habe das Foto nicht von deinem Hundeficker«, sagte ich. »Dieses Foto war bei meinen Babysachen.«
    Inez Gesicht war ohne jeden Ausdruck.
    »Das ist nicht wahr«, sagte sie.
    »Nein?«
    »Nein.«
    »Weil mir da mal wieder ein Stück Realität fehlt?«
    »Das kann nicht wahr sein«, sagte Inez.
    »Da kannst du gern dein restliches Leben drüber nachdenken. Bis du steinalt

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