Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
Vom Netzwerk:
bist.«
    Sie wandte sich ab.
    »Weißt du, was komisch ist«, sagte ich. »Dass du erst jetzt draufkommst. Das ist doch wirklich komisch!«
    Sie wollte zum Tisch zurück, um noch mehr Wein zu holen, um mich nicht länger ansehen zu müssen, sie wollte raus an die Luft. Ich ließ sie nicht.
    Ich zwang sie dicht vor mich.
    »Wieso bist du nicht eher draufgekommen? Im Juli. Im August. Eine Mutter spürt so was doch. Oder nicht? Eine Mutter kann so was doch
riechen
! Wieso hast du’s nicht ge
rochen
?« Ich packte ihr Kinn, wie ich es mit Guido gemacht hatte. Ich atmete sie an. »Riechst du’s jetzt? – Nein? Natürlich riechst du’s nicht. Kannst du gar nicht. Du bist kein Muttertier,
du
nicht. Du kannst ja noch nicht mal auf deine Scheißvögel aufpassen, die kratzen alle ab! Überall liegen diese
Kadaver
rum. Scheiße, ich hab’s dir nicht gesagt, ich wollte dich
schonen
. Aber wahrscheinlich ist diese ganze beschissene Insel total
verwest

    Wir standen da. Ich ließ ihr Kinn los.
    »Beweis du mir, dass du es nicht bist«, sagte sie kalt. »Lass dir was einfallen. Erzähl mir von eurer Saufnacht. Erzähl mir, dass du’s auf dem Trödelmarkt gekauft hast. Erlös uns. Sag mir irgendwas. Aber hör auf, hier den kleinen betrogenen Jungen zu spielen.«
    Nach einer Weile hörte ich Regen. Er schlug aufs Dach und an die Fenster.
    Das ist der Augenblick, der letzte.

Das Meer
    Das ist der Augenblick, in dem alles beginnt.
    Von hier aus kann man wieder überall hingehen.
    Es beginnt mit der Gischt, die eine grüne Schlammspur an den Bug wirft; Algen, die der Ostsee langsam den Sauerstoff entziehen.
    Es beginnt mit der Frau, die in Khakishorts über den Strand läuft. Ihr Haar ist hell und abgeschliffen von Sonne und Salz. Die Haut ist gebräunt. Am Handgelenk sticht ein weißer Streifen hervor, der schmale Abdruck einer Uhr.
    Sie läuft auf den Bootssteg und winkt dem Kapitän. Die Passagiere steigen aus, zwei Finninnen, eine Großfamilie mit Kind.
    Die Luft ist sonnendurchflutet. Sie strömt über helle Haare, über Khakishorts, über den Strand. Der Horizont verschliert im Dunst.
    Der Junge läuft über die Gangway der Fähre. Er erreicht den Kai. Er läuft in Richtung Ufer, er gerät dicht an den Rand des Kais. Es sieht aus, als würde er beim nächsten Schritt daneben treten, als trete der Fuß ins Leere.
    Es beginnt damit, dass man noch nichts weiß, und mit dem Wissen, dass man später nicht mehr in diesen Zustand zurückkehren kann.
    Die Frau hält den Arm des Jungen nur kurz. Er sieht, wie die Träger ihres BH s unter dem T-Shirt hervorblitzen. Die Träger sind weißer als der Sand, weißer als die Farbe der Kalksteine, weißer als das Boot.
    Er verlässt den Steg.
    Die Frau sieht, wie er ankommt. Wie er seinen Rucksack abstellt am Strand, wie er die Augen verschattet, um den Ort zu betrachten.
    Das Museum. Das Café. Die Kate am Strand.
    Sie ahnt nicht, wer dieser Junge ist. Sie ahnt nicht, dass er ausgerechnet heute kommt, dass er überhaupt kommen könnte, sie kennt ihn nicht.
    Noch weiß sie nicht einmal, dass er ihr gefällt.
    Sie sieht seine ramponierten Chucks und das Hemd, das über der Brust geöffnet ist.
    Sie nähert sich ihm, und er lächelt sie an. Sein Lächeln gefällt ihr. Es ist ein Lächeln, das sie mühelos erwidern könnte.
    Er ist schlank und hat einen wachen Blick.
    So beginnt es.
    Es drängt sich in die Leere, die vorn an der Felskante im Aufwind entsteht.
     
    Die Leere, die vorn an der Felskante im Aufwind entsteht, ist verlockend. Ihre Anziehungskraft, ihr Sog. Sie täuscht über die Tiefe hinweg. Sie glättet die Schroffheit der Felsen. Sie lässt den Abgrund flach aussehen.
    Die Luft erscheint satt, als könne sie tragen, das Dunkel wirkt mild.
    Sie weckt den Wunsch, sich hinabzustürzen, es mit derselben Leichtigkeit, mit demselben instinktiven Vertrauen zu tun wie die Vögel, sich von der Kante weg fallen zu lassen, den Fuß nur ein Stück nach vorn zu schieben, das Gewicht zu verlagern und sich der Wirkung der Schwerkraft zu überlassen, ihrem Druck, ihrer Endgültigkeit; diese Verlockung, sich einfach vorzubeugen und dem Fall nachzugeben, sich ihm einen kurzen, berauschenden Moment lang hinzugeben, um dann für immer aufgehoben zu sein.
    In der Kälte der Nacht.
    Sechzig Meter über der Ostsee.
    Ein schwarz-weißes Geflacker.
    Aber es geschieht nicht. Etwas verhindert, dass es geschieht. Vielleicht ist es Angst.
    Vielleicht reicht schon ein Zögern, um den Lebenstrieb wieder

Weitere Kostenlose Bücher