Sturz der Tage in die Nacht
sie es wiederhatte.
Das war ein guter Gedanke. Da ließ sich ein wenig verweilen. Der Gedanke entschärfte heiße Augustnächte wie diese, in denen der tagsüber ausgedünstete Schweiß noch in der Nacht in der Luft hing, und machte Hindernisse lächerlich.
Schließlich brachte die Sache sogar Spaß. Und im Spaß konnte man sich immer einbilden, etwas zu sein oder geworden zu sein, was man nicht geworden war. Da hatte man was im Außenhandel werden wollen, Devisenbeschaffung, Geschäftsreisen ins nichtsozialistische Ausland, Hotels in Kairo, Paris, London, ein paar Privilegien mussten in diesem endlosen Leben schon her. Man hatte sich die nötigen Beziehungen, das richtige Klassenbewusstsein und einen astreinen Umgang zugelegt und war nur noch ein paar Unterschriften vom Einsatz am Feind entfernt, und dann landete man von ganz allein in diesem Nichtsozialismus, und was man hatte werden wollen, dachte Felix Ton, war mit dem Aufwand, den man betrieben, und den Opfern, die man erbracht hatte, sinnlos verpufft.
Ein bißchen Selbstmitleid regte sich. Aber um diese Uhrzeit war das zulässig.
Ton überlegte, ob er den Hennessy alle machen sollte. Der Rest in der Flasche würde reichen, um schön durchglüht in den neuen Morgen hineinzusegeln. Die Verlockung war groß. Aber er hatte Termine. Die Grundsteinlegung eines Schwimmbads in irgendeinem Nest. Zwei Sitzungen im Fraktionsausschuss, für die er sich noch briefen lassen musste, Interviews, abends eine Benefizgala zur Unterstützung von Familien mit Downsyndrom-Kindern. Über diese Ochsentour wäre er längst hinaus gewesen. Wäre der Nichtsozialismus schon ein bisschen früher hereingebrochen und hätte man mit dem Festlegen noch etwas gewartet, dachte Ton und griff nach der Flasche, hätte man längst drin sein können im Zirkel der Wichtigtuer. Er nahm einen Schluck. Er hatte noch irgendeine Sache zu Ende denken wollen und wusste nicht mehr, welche, und solange es noch nicht raus war, wer man war oder sein wollte, nützte dieses ganze Durchdenken einer Sache nichts.
Ton fixierte den Lichtreflektor am Himmel. Die vielen halbfertigen Gestalten, die der tägliche Umgang waren, bewiesen das. Auch man selbst bewies sich das immer wieder. Man war ein leeres, transparentes Glas, und wenn man Glück hatte, kippte jemand Hennessy rein und nicht bloß Wasser.
Und dann kam ihm wieder dieses Gesicht dazwischen.
Zum zweiten Mal an diesem Abend dachte er an Inez. Die Einsiedlerin. Die Vogelverrückte.
Zitieren Sie mich nicht!
Das Mädchen mit den Pulswärmern, selbstgestrickt aus lila Wolle. Das Mädchen, auf das er gewartet hatte. Sein Mädchen, was schon besser klang. Sein Mädchen für alle, denen selbstgestrickte lila Pulswärmer auf die Tränendrüsen drückten. Sein Mädchen, das einem Westcousin heimlich Liebesbriefe geschrieben hatte. Sein Mädchen, auf das er eines Tages vergeblich vor dem
Flink Fertig
gewartet hatte.
Flink Fertig brauchst du wegen des Zeitkolorits. Wenn du Zeitkolorit hast, nehmen dir diese Medienheinis mit ihren hintergrundlosen Designerkindheiten alles ab,
hatte Feldberg
gesagt und recht behalten.
Inez hatte nie lila Pulswärmer getragen.
Der Westcousin existierte nicht.
Flink Fertig
gehörte nicht nach Greifswald.
So war es nur in der
Brigitte
erschienen. So stand es in der
Elle
und im
Focus
.
Laut
Brigitte
hatte er im
Flink Fertig
zwei Vanillemilch ergattert, und sie hatten jeder eine dieser dreieckigen Tüten getrunken und waren ein bisschen herumgefahren, bis es dunkel wurde. Er hatte den Wagen mit Kunstfellen vom polnischen Schwarzmarkt gepolstert und kleine Vorhänge an den hinteren Scheiben angebracht. Davon gab es sogar noch Fotos. Im Sommer waren sie an die Greifswalder Bucht gefahren, im Winter konnten sie nirgendwo hin. Im Winter, bevor Inez schwanger wurde. An den Fenstern kroch Frost hoch. Wenn es zu kalt war, stellte er den Motor an, und sie hörten dem Prasseln des Vergasers zu und sahen den blauen Qualm, der für eine Weile die Rückscheibe vernebelte, bis sie sich die Decke von den Schultern strich, die er ihr umgehängt hatte. Mein Wagenlenker. Mein Herz.
Nach drei Monaten habe ich ihr einen Heiratsantrag gemacht. Verrückte Zeiten!
Laut
Brigitte
hatte er sogar angefangen, altes Geschirr im Keller zu bunkern für den Polterabend. Er hatte seine Kommilitonen angeschnorrt und war zu seinen Alten in den Sumpf gefahren, um dort ein bisschen auszuräumen. Sumpf sagte er natürlich nicht, das war nur der Gedanke, der ihm kam, als
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