Sturz der Tage in die Nacht
lachte, es klang verächtlich. »Das wird sich noch zeigen«, sagte Inez, »ob du das kannst.« Sie war aufgestanden.
Böen ließen das Fensterglas krachen.
»Er hatte ein Radio mit Kassettendeck.« Sie ging hinüber zu den Arbeitskisten auf der Suche nach ihrem Haargummi. »Er hatte gute Musik, viel von drüben. In der ersten Zeit war es wie verreisen. Wegfliegen. Ein Zauber. Und ich glaubte, er meinte mich. Und dann meinte er mich jedesmal weniger, während sein Kumpel an der Ecke eine rauchte.«
Das ist etwas, das sich mir für immer eingeprägt hat, Inez’ Gesicht, in dem sich alles verschoben hatte.
»Ich weiß nicht, was das soll. Ich wünschte, du hättest nie davon angefangen.«
»Wir mussten damit anfangen, Erik. Und jetzt machen wir weiter. Und du hörst auf, dir was vorzumachen.«
»Es interessiert mich nicht, mit welchen Arschlöchern du es getrieben hast!«
»Ich bin dir dankbar, dass du es dir trotzdem anhörst.«
»Das werde ich nicht. Ich werde jetzt gehen.«
»Trink, Erik. Wenn du nicht genug trinkst, wird es weh tun.«
»Du bist die Letzte, die das einschätzen kann.«
»Gut. Dann erzähle ich es dir, und dann kannst du entscheiden, ob es weh tut. Aber lass es mich wissen.«
»Dann tu’s doch. Erzähl mir, wie dieser Arsch es dir besorgt hat!«
Inez sah mich an.
»
Wir
sind doch sowieso schon Geschichte.«
»Er hat mich in seinen Wartburg bestellt«, sagte sie ruhig. »Er legte Wert darauf, dass ich nach der Schule auf den Parkplatz hinter der Kaufhalle kam. Er hat mich gefragt, ob ich ihn liebe. Ich habe es ihm gesagt. Er wollte Beweise. Verschiedene Dinge, er konnte sehr einfallsreich sein. Und von einem Tag auf den anderen hörte er damit auf.« Sie schaute die rote Stehlampe an. »Ich versuchte wie eine Bekloppte, ihm zu gefallen. Er sah mir lächelnd zu, wenn ich mich auszog. Und er schickte mich weg. Nein, Erik, hör zu! Er trieb es soweit, bis er mich verachten konnte. Ich war zu jung. Ich wollte die ganze Zeit diesen Ritter wieder, in den ich mich verliebt hatte. Ich war überzeugt, dass er das war. Und ich bin immer noch überzeugt, dass das, was ihn verändert hat, von außen kam. Sonst hätte er nicht jedesmal, wenn ich mich ausgezogen hatte, gelacht und gesagt: Zieh dich wieder an. Zieh dich an! Es hätte einfachere Wege gegeben, mich loszuwerden.«
Der Wind schien verdichtet, hart wie ein Steinbrocken, der von einem langen Arm von irgendwoher gegen die Fenster geschlagen wurde, gleichmäßig heftig, die Hütte dröhnte.
»Wie man Leute los wird, damit kennst du dich ja aus«, sagte ich. Es war ein Dröhnen, das wie ein Herzschlag im Verstärker klang, wahrscheinlich mein Herzschlag, Herzdonnern.
»Später fiel mir auf, dass er immer an einer Stelle parkte, an der mein Vater auf dem Nachhauseweg vorbeikommen musste. Er war nichts Besonderes. Er war genau so ein Arschloch wie die meisten Leute.«
»Ich kenne ziemlich viele, die keine Arschlöcher sind.«
Inez nickte. »Man ist immer gewillt, das, was man sich vormacht, als Wirklichkeit zu sehen. Was nicht so seltsam ist. Das Seltsame ist, dass diese Wirklichkeit bleibt. Etwas in dir wird für immer in dieser Wirklichkeit leben, egal, wie oft sie enttäuscht wird. Als ob einen das vor dem Verrücktwerden rettet.«
Das Licht der Stehlampe beleuchtete ihr Gesicht, ihren Hals, ihren Schatten. Es beleuchtete das Fenster, so dass die Dunkelheit draußen nicht mehr zu sehen war. Inez kam zu mir. Sie küsste mich. Ihre Lippen waren drängend und sanft. Sie passten nicht zu ihren kalten Händen auf meinen Oberschenkeln. Sie passten nicht zu ihrem Geruch nach Wein und Hautcreme, sie passten nicht zum rötlichen Licht der Lampe und nicht zum Sturm, der in dieser Nacht die Ostsee peitschte und Schaumberge zwischen den Felsen anhäufte, die am nächsten Morgen noch da sein würden, hin- und hergedrückt vom Wind oder in Flocken, die sich gelöst hatten, über den Strand trieben.
Inez küsste mich, und ich unterdrückte den Impuls, sie wegzuschieben. Dann ging sie ins Schlafzimmer.
»Ich glaub das nicht mit Feldberg«, rief ich trotzig hinter ihr her. »Wahrscheinlich war der Hund gestört.«
Als sie zurückkam, hielt sie die Arme hinter dem Kopf. Sie steckte das Haar mit einer langen, grün leuchtenden Haarnadel fest.
»Natürlich war der Hund gestört.«
Inez’ Hütte stand dicht am Felsen. Bei geöffnetem Fenster konnte man den Stein mit der Hand berühren. Man sah die Maserungen und die schmutzigweißen Ringe der
Weitere Kostenlose Bücher