Sturz der Tage in die Nacht
anzukurbeln.
Lebenstrieb oder Instinkt.
Die Leere lässt den Anfang leuchten.
Und es beginnt.
Plinthosella Squamosa
Felix Ton
schaute in die Nacht.
Er träumte nicht. Spätestens seit der Pressekampagne entzog er sich der Möglichkeit zu träumen, indem er das Schlafen weitgehend vermied.
Er verachtete es.
Er schob es auf.
Er schaute in die Nacht, in der auch Inez stand, irgendwo auf einer Insel.
Das vierte Glas Hennessy war geleert. Er hob das Glas in Richtung Mond, der knochenbleich hinter den Bäumen schwebte. Er gratulierte sich. Die letzten Jahre waren ein einziger Kampf gewesen, ein bloßes sich Über-Wasser-Halten, aber jetzt stellte er ein erstes inneres Glühen fest an den Enden seiner Nervenbahnen, das stärker werden und sich ausweiten würde, bis sein Körper ein einziger Glutmuskel wäre.
Der Mond prostete zurück, und Inez verschwand.
Es war eine gute Entscheidung gewesen, an die Öffentlichkeit zu gehen. Vater-Sohn-Geschichten waren brauchbares Material. Man musste sich nur mal umhorchen. Die wachsende Zahl der Väter, die nicht zu ihren Kindern gelassen wurden, die wachsende Menge an Gerichtsverfahren, in denen es ums Sorgerecht ging, die Wut in den Augen der Kläger. Da war noch was zu holen. Da lag in diesem demokratischen Staat noch etwas brach, da gab es eine Ungerechtigkeit, die eine große Wählerschaft betraf. Und am Ende ließ sich sogar aus der eigenen Biographie etwas herausholen, da machte das Ganze doch Sinn. Es war sein Thema. Er war
prädestiniert
dafür, wie er gern sagte, weil das Wort nach Schicksal klang, so
destiny
, und weil Schicksal immer überzeugte. Selbst wenn man dafür ein bisschen die Ärmel aufkrempeln musste, dachte Ton, weiterhin an den Mond gewandt.
Sich ein bisschen umhören. Adoptionsurkunde. Adresse und Name der Adoptiveltern. Der Name des Sohnes. Inez’ aktueller Aufenthaltsort.
In der Akte hatte der Blaupapier-Durchschlag eines mit Hand beschriebenen Zettels gelegen. Auf dem Zettel war vermerkt, dass die Pflegeeltern Annegret und Erwin Zerch berechtigt waren, den Säugling mit der Registernummer 43/84 mit sich zu führen. Der Zettel musste den Zerchs noch in der Klinik ausgehändigt worden sein, als sie das Baby abholten. Die
Urkunde zur Annahme an Kindes Statt
war auf einen späteren Zeitpunkt im März 85 datiert. So machten sie das damals, dachte Ton, verscheuerten die Babys gleich im Krankenhaus. Und ihre Anweisungen klierten sie per Hand auf einen Wisch, der mit Stempel versehen mächtiger war als heute jedes computergenerierte Formular. Registernummer 43/84. Abgelegt im Referat Jugendhilfe, Abteilung Volksbildung. Was die Zerchs dafür hingeblättert hatten, war nicht ersichtlich. Auch vermittelbare Babys waren Mangelware. Da brauchte man Vitamin B oder Schmott.
In der Akte hatte sich auch eine Aufforderung zur monatlichen Zahlung von 75 Mark an die Jugendhilfe gefunden; Alimente, die Hans-Christian und Maria Rauter für die Übergangszeit geleistet haben mussten.
Soweit wusste er alles.
Ob der Adoptionsbeschluss astrein war, wusste er nicht. Es konnte Komplikationen gegeben haben, Unstimmigkeiten, wovon er im Grunde nichts wissen konnte, denn Feldberg hatte dichtgehalten, was strategische Operationen anging.
Die Vater-Sohn-Geschichte würde gut ankommen. Sie würde der Kampagne noch einmal Aufwind geben, nachdem der Juli eher flau gelaufen war. Und wenn man zusätzlich die Mauer ins Spiel brachte, könnte es noch mal einen Aufmacher geben.
Ausbaufähige Legendierung
, wie Feldberg anerkennend gesagt hatte.
Realfiktion
, wie das heute im Politjargon hieß.
Ein Jungsstreich, wenn man so wollte.
Man musste nur aufhören, sich um dieses Mädchen auf der Insel Sorgen zu machen.
Ton sah auf die Uhr. Es war kurz vor Mitternacht. Vorerst wollte er noch nicht den Mut verlieren. Feldbergs Verspätung musste nicht zwangsläufig schlechte Nachrichten bedeuten. Einer wie Feldberg kriegte so was hin. Das war doch ein Kinderspiel für den. Inez hatte längst klein beigegeben. Wahrscheinlich hatte sich Feldberg verspätet, weil seine Flugangst ihn auf Bus oder Bahn hatte ausweichen lassen und er ewig durch die Landschaft tuckerte, um von da oben wegzukommen, Polarkreis, oder wo immer diese Insel lag.
Und wenn man mal genau nachdachte, und Ton war heute Nacht in der Stimmung, genau nachzudenken, profitierten sie alle. Auch Inez. Schließlich musste eine Mutter das quälen: Da hatte sie ein Kind und hatte es nicht. Und jetzt sorgte er dafür, dass
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