Sturz der Titanen
lassen.
Ethel hatte geglaubt, nicht schlafen zu können, doch Erregung, Angst und Sorgen hatten sie erschöpft, und gegen Mitternacht fiel sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Die aufgehende Sonne weckte sie. Ethel freute sich wie immer auf den neuen Tag. Erst dann kam wie ein Sturzbach die Erinnerung, dass ihr altes Leben zu Ende war und dass sie sich mitten in einer Tragödie befand. Beinahe wäre sie wieder in Tränen ausgebrochen, kämpfte aber dagegen an. Den Luxus von Tränen konnte sie sich nicht leisten. Sie musste ein neues Leben beginnen.
Ethel zog sich an und ging hinunter ins Dienstbotenzimmer, wo sie verkündete, sich von der gestrigen Übelkeit erholt zu haben und ihr Tagewerk verrichten zu können.
Lady Maud schickte noch vor dem Frühstück nach ihr. Ethel stellte ein Frühstückstablett zusammen und trug es in das Rosa Zimmer. Maud saß in einem purpurnen Negligé aus Seide vor der Frisierkommode. Sie hatte geweint, was Ethels Mitgefühl weckte, obwohl sie genug eigene Sorgen hatte. »Was haben Sie denn, Mylady?«
»Ach, Williams, ich musste ihn aufgeben.«
Ethel vermutete, dass sie Walter von Ulrich meinte. »Aber wieso denn?«
»Sein Vater hat mich aufgesucht. Mir war nicht klar genug, dass Großbritannien und Deutschland Feinde sind. Wenn Walter mich heiratet, zerstört er seine Karriere – und die seines Vaters vermutlich gleich mit.«
»Aber jeder sagt doch, dass es keinen Krieg gibt, weil Serbien nicht wichtig genug ist.«
»Es wird Krieg geben. Wenn nicht jetzt, dann später. Und selbst wenn es doch nicht so weit kommt, genügt schon die Bedrohung.« Auf der Frisierkommode lag ein rosa Spitzenkragen. Maud zerrte nervös daran und riss den teuren Stoff auf, sodass Ethel im Stillen bereits ein paar Nähstunden veranschlagte. »Wäre Walter mit einer Engländerin verheiratet, würde man ihm im deutschen Außenministerium keine Geheimnisse mehr anvertrauen.«
Ethel schenkte Kaffee ein und reichte Maud eine Tasse. »Wenn Herr von Ulrich Sie wirklich liebt, wird er seine Arbeit aufgeben.«
»Aber das will ich nicht.« Maud ließ den Spitzenkragen in Ruhe und trank einen Schluck Kaffee. »Ich darf nicht schuld daran sein, dass seine Karriere zerstört wird. Das wäre keine Basis für eine Ehe.«
»Was sagt Herr Walter denn dazu?«, fragte Ethel.
»Ich habe nicht mit ihm gesprochen. Ich habe ihm einen Brief geschrieben und bin ihm aus dem Weg gegangen, wo ich nur konnte, bis es mir zu viel wurde und ich hierhergekommen bin.«
»Warum möchten Sie denn nicht mit ihm sprechen?«
»Weil ich weiß, was passieren würde. Er würde mich in die Arme nehmen und küssen, und dann gäbe ich nach.«
Das Gefühl kenne ich, dachte Ethel.
Maud seufzte. »Sie sind so still heute Morgen, Williams. Sie haben wahrscheinlich eigene Sorgen. Ist es so schlimm mit diesem Streik?«
»Ja, Mylady. Die ganze Stadt ist auf Hungerrationen.«
»Geben Sie den Kindern der Bergarbeiter immer noch zu essen?«
»Jeden Tag.«
»Das ist gut. Mein Bruder ist sehr großzügig.«
»Ja, Mylady.« Wenn es ihm passt.
»Sie sollten jetzt wieder an die Arbeit gehen. Danke für den Kaffee. Wahrscheinlich langweile ich Sie mit meinen Problemen.«
Impulsiv ergriff Ethel Mauds Hand. »Bitte sagen Sie das nicht. Sie sind immer gut zu mir gewesen. Es tut mir schrecklich leid wegen Herrn Walter, und ich hoffe, dass Sie mir immer Ihre Sorgen anvertrauen.«
»Das ist nett von Ihnen.« Wieder stiegen Maud Tränen in die Augen. »Ich danke Ihnen sehr.« Sie drückte Ethels Hand und ließ sie los.
Ethel nahm das Tablett und ging. Als sie in die Küche kam, fragte Peel, der Butler: »Haben Sie etwas ausgefressen?«
Das kann man wohl sagen, antwortete Ethel stumm. »Wieso fragen Sie?«
»Seine Lordschaft möchte Sie um halb elf in der Bibliothek sprechen.«
Also gab es ein offizielles Gespräch. Vielleicht ist es besser so, überlegte Ethel. Sie wären durch einen Schreibtisch getrennt; dann käme sie gar nicht erst auf die Idee, sich Fitz in die Arme zu werfen. So könnte sie auch die Tränen besser zurückhalten. Und sie musste gefasst sein, denn diese Auseinandersetzung bestimmte über ihr zukünftiges Leben.
Ethel würde Ty Gwyn vermissen. In den Jahren, die sie hier arbeitete, hatte sie die Villa und deren Einrichtung lieb gewonnen. Sie hatte gelernt, woran man einen Kandelaber erkannte, ein Büfett, eine Vitrine, einen Notenständer und vieles andere. Sie hatte die Intarsien studiert, die Girlanden und Schnörkel, und
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