Sturz der Titanen
die widerstreitenden Gruppierungen geeint.
Grey war nicht der Mann, der virtuos mit den Empfindungen seiner Zuhörerschaft spielen konnte wie Lloyd George, noch vermochte er wie ein Prophet des Alten Testaments zu klingen, worauf sich Churchill verstand; heute aber benötigte er diese Fähigkeit auch gar nicht: Die Tatsachen nahmen ihm die Arbeit ab. Maud wandte sich Walter zu und fragte mit zittriger Flüsterstimme: »Warum hat Deutschland das getan?«
Ein schmerzlicher Ausdruck legte sich auf Walters Gesicht, doch er antwortete in seiner gewohnt besonnenen Art: »Südlich von Belgien ist die deutsch-französische Grenze schwer befestigt. Würden wir dort angreifen, würden wir zwar siegen, aber es würde zu lange dauern. Russland hätte Zeit für die Generalmobilmachung und könnte uns in den Rücken fallen. Ein schneller Sieg ist nur garantiert, wenn wir durch Belgien marschieren.«
»Aber dann wäre es unabwendbar, dass Großbritannien gegen euch in den Krieg zieht!«
Walter nickte. »Aber das englische Heer ist klein. Ihr verlasst euch auf eure Marine, und ein Seekrieg steht nicht bevor. Unser Generalstab ist der Ansicht, dass England in einem Krieg kein großer Machtfaktor ist.«
»Bist du auch dieser Meinung?«
»Ich halte es nicht für klug, sich einen reichen und mächtigen Nachbarn zum Feind zu machen. Aber bei dieser Diskussion habe ich den Kürzeren gezogen.«
Wie so viele andere in den letzten beiden Wochen in ganz Europa, dachte Maud verzweifelt. Überall waren die Kriegsgegner ins Hintertreffen geraten. Österreich hatte Serbien angegriffen, als es sich hätte zurückhalten können; die Russen hatten mit der Generalmobilmachung begonnen, statt zu verhandeln; Deutschland hatte sich geweigert, an einer internationalen Konferenz teilzunehmen, um die Probleme beizulegen; Frankreich war die Möglichkeit geboten worden, neutral zu bleiben, doch es hatte die Gelegenheit ausgeschlagen. Und jetzt trat auch noch Großbritannien in den Konflikt ein, obwohl es ein Leichtes gewesen wäre, sich herauszuhalten.
Grey war nun am Schluss seiner Rede angelangt. »Ich habe dem Haus die wesentlichen Tatsachen vorgebracht. Falls wir gezwungen werden, rasch Stellung zu beziehen – was nicht unwahrscheinlich erscheint –, glaube ich, dass wir Unterstützung finden werden, sobald unser Land begreift, was auf dem Spiel steht. Ich bin überzeugt, dass wir uns der Entschlossenheit, dem Mut und den Siegeswillen des ganzen Landes sicher sein können.«
Grey setzte sich, bejubelt von allen Seiten. Eine Abstimmung hatte nicht stattgefunden – Grey hatte sie nicht einmal beantragt –, doch aus der Reaktion der Abgeordneten ging eindeutig hervor, dass sie zum Krieg bereit waren.
Der Oppositionsführer, Andrew Bonar Law, erhob sich und erklärte, die Regierung könne auf die Unterstützung der Konservativen zählen. Maud überraschte das nicht; die Konservativen waren von jeher kriegerischer als die Liberalen. Doch als sogar der politische Führer der irischen Nationalisten die Kriegstrommel rührte, kam Maud sich vor wie im Irrenhaus. War sie denn der einzige Mensch auf Erden, der den Frieden wollte?
Nur der Vorsitzende der Labour-Partei sperrte sich. »Ich glaube, der Premierminister irrt sich«, sagte Ramsay. »Ich glaube, die Regierung, die er vertritt und für die er spricht, irrt sich. Ich glaube, die Geschichte wird das Urteil fällen, dass wir alle uns geirrt haben.«
Doch niemand hörte ihm zu. Viele Abgeordnete verließen bereits den Saal. Auch die Galerie leerte sich. Fitz erhob sich, und die anderen folgten ihm, auch die seltsam teilnahmslose Maud. Es war der schlimmste Tag ihres Lebens. Ihr Land würde einen unnötigen Krieg führen; ihr Bruder und der Mann, den sie liebte, würden ihr Leben auf dem Schlachtfeld riskieren, und sie würde von ihrem Verlobten getrennt werden – vielleicht für immer. Alle Hoffnung schien verloren.
Plötzlich legte sich Walters Hand um ihren Arm, und er hielt sie zurück und ließ mehrere Personen vorbeigehen, bis Fitz außer Hörweite war. Dann sagte er etwas, das für Maud völlig unvorbereitet kam:
»Heirate mich.«
Maud schlug das Herz bis zum Hals. »Was?«, flüsterte sie. »Wie denn?«
»Heirate mich. Bitte. Gleich morgen.«
»Das geht doch nicht …«
»Ich habe eine Sondererlaubnis.« Er tätschelte die Brusttasche seines Jacketts. »Ich war am Freitag auf dem Standesamt in Chelsea.«
Mauds Gedanken überschlugen sich. »Wir hatten uns doch geeinigt, noch zu
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