Sturz der Titanen
Liebling,
begann sie und hielt inne, um nachzudenken.
Ihr Blick blieb an ihrem Abbild in dem ovalen Spiegel hängen. Ein finsterer Ausdruck krauste ihre Stirn und zog ihre Mundwinkel nach unten. Zwischen ihren Zähnen entdeckte sie ein Stückchen grünes Gemüse. Ihr Haar war zerzaust, ihr Nachthemd zerknittert. Wenn Walter mich jetzt sehen könnte, dachte Maud, würde er mich vielleicht gar nicht mehr heiraten wollen. Dann wurde ihr klar, dass er sie morgen früh genau so sehen würde, wenn sie sich an seinen Plan hielten. Der Gedanke war beängstigend und aufregend zugleich.
Sie schrieb:
Ja, ich möchte Dich heiraten, von ganzem Herzen und mit ganzer Seele. Aber wie soll es danach weitergehen? Wo sollen wir leben?
Sie hatte die halbe Nacht darüber nachgedacht. Die Hindernisse waren ihr riesig erschienen.
Wenn Du in Großbritannien bleibst, kommst Du in ein Gefangenenlager. Wenn wir nach Deutschland gehen, werde ich Dich nie sehen, weil Du nicht daheim bist, sondern im Feld.
Auf beiden Seiten des Kanals bereiteten die Verwandten ihnen möglicherweise größere Schwierigkeiten als die Behörden.
Wann sollen wir unseren Familien von der Heirat erzählen? Bitte nicht vorher! Fitz würde eine Möglichkeit finden, uns aufzuhalten. Und hinterher wird es Schwierigkeiten zwischen ihm und Deinem Vater geben. Sag mir, wie Du darüber denkst.
Ich liebe Dich von ganzem Herzen.
Maud klebte den Umschlag zu und schrieb die Adresse seiner Wohnung darauf, eine Viertelmeile entfernt von hier. Dann klingelte sie, und kurz darauf klopfte ihr Dienstmädchen an die Tür, Sanderson, ein molliges Mädchen mit breitem Lächeln. Maud sagte: »Wenn Mr. Ulrich nicht zu Hause ist, gehen Sie zur deutschen Botschaft auf der Carlton House Terrace. Warten Sie auf seine Antwort. Haben Sie verstanden?«
»Jawohl, Mylady.«
»Es ist nicht nötig, dass andere Dienstboten davon erfahren.«
Ein besorgter Ausdruck legte sich auf Sandersons junges Gesicht. Viele Dienstmädchen waren in die Ränke ihrer Herrinnen eingeweiht, doch Maud hatte nie geheime Liebschaften gehabt, und Sanderson war Täuschung nicht gewöhnt. »Was soll ich Mr. Grout sagen, wenn er mich fragt, wo ich hingehe?«
Maud überlegte kurz. »Sagen Sie ihm, Sie müssten mir gewisse Damenartikel besorgen.« Die Peinlichkeit würde Grouts Wissbegier zügeln.
»Sehr wohl, Mylady.«
Sanderson ging, und Maud zog sich an.
Sie war nicht sicher, wie sie vor der Familie den Anschein von Normalität aufrechterhalten sollte. Auch wenn Fitz ihre Stimmung vielleicht nicht bemerkte – Männer nahmen so etwas selten wahr –, war Tante Herm nicht völlig mit Blindheit geschlagen.
Zur Frühstückszeit ging Maud nach unten, auch wenn sie zu angespannt war, als dass sie einen Bissen hätte essen können. Tante Herm aß einen Bückling, von dessen Geruch Maud beinahe übel wurde. Sie nippte an ihrem Kaffee.
Fitz kam eine Minute später herein. Er nahm sich einen Bückling vom Büfett und schlug die Times auf. Was tue ich normalerweise, überlegte Maud. Ich rede über Politik. Also muss ich es heute auch tun. »Hat sich gestern Abend noch irgendwas ereignet?«, fragte sie.
»Ich habe nach der Kabinettssitzung Winston getroffen«, antwortete Fitz. »Wir ersuchen die deutsche Regierung, ihr Ultimatum an Belgien zurückzuziehen.« Das Wort »ersuchen« betonte er verächtlich.
Maud schöpfte ein klein wenig Hoffnung. »Soll das heißen, wir haben es doch noch nicht ganz aufgegeben, auf Frieden hinzuarbeiten?«
»Nein, wir könnten es genauso gut sein lassen«, entgegnete er mürrisch. »Was immer in den Köpfen der Deutschen vorgeht, aufgrund einer höflichen Bitte werden sie es sich nicht anders überlegen.«
»Ein Ertrinkender klammert sich an jeden Strohhalm.«
»Wir klammern uns nicht an Strohhalme. Wir machen bloß die üblichen rituellen Schritte vor einer Kriegserklärung.«
Er hat recht, dachte Maud bestürzt. Sämtliche Regierungen würden behaupten wollen, der Krieg sei ihnen aufgezwungen worden, ohne dass sie ihn gewünscht hätten. Fitz ließ sich nicht anmerken, ob er sich der Gefahr bewusst war, dass sein diplomatisches Degengefuchtel ihm eine tödliche Wunde eintragen konnte. Maud wollte ihn beschützen und ihn gleichzeitig seines dummen Eigensinns wegen erwürgen.
Um sich abzulenken, blätterte sie den Manchester Guardian durch. Die Zeitung enthielt eine ganzseitige Anzeige der Neutralitätsliga mit der Parole: Briten, tut eure Pflicht und haltet euer Land aus einem
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