Sturz der Titanen
warten.« Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen.
»Wir haben gewartet«, erwiderte Walter. »Die Krise ist vorüber. Deutschland und England werden morgen oder übermorgen im Krieg sein. Ich werde England verlassen müssen. Deshalb möchte ich dich heiraten, ehe ich abreise.«
»Wir wissen doch gar nicht, was kommt.«
»Das stimmt. Aber egal was die Zukunft bringt, ich möchte, dass du meine Frau wirst.«
»Aber …« Maud hielt inne. Wieso brachte sie einen Einwand nach dem anderen vor? Walter hatte recht. Niemand wusste, was kam, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Sie wollte seine Frau werden, egal wie die Zukunft aussah.
Ehe Maud etwas sagen konnte, erreichten sie das untere Ende der Treppe und gelangten in die Central Lobby, die erfüllt war vom aufgeregten Gemurmel der Menge. Maud hatte den sehnlichen Wunsch, mit Walter zu reden, doch Fitz bestand ritterlich darauf, sie und Tante Herm aus der Menge zu geleiten. Auf dem Parliament Square setzte er die beiden Damen in ein Taxi. Der Fahrer ließ den Wagen an; der Motor rumpelte, und das Taxi fuhr davon.
Fitz und Walter blieben bei der Menge zurück, die darauf wartete, ihr Schicksal zu erfahren.
Walter will mich zur Frau! Maud hielt diesen Gedanken fest, während ihr Fragen über Fragen durch den Kopf schwirrten. Sollte sie auf Walters Wunsch eingehen, oder wäre es besser, noch abzuwarten? Wenn sie einwilligte, ihn morgen zu heiraten, wem sollte sie es sagen? Und wohin würden sie nach der Trauung gehen? Würden sie zusammen wohnen? Und wenn ja, wo?
An diesem Abend brachte ihr das Dienstmädchen vor dem Abendessen ein Briefkuvert auf einem silbernen Tablett. Es enthielt einen einzigen Bogen schweres, cremefarbenes Papier, das in blauer Tinte mit Walters präziser, steiler Handschrift bedeckt war.
Geliebte Maud!
Morgen um halb vier warte ich gegenüber von Fitz’ Haus in einem Wagen auf Dich. Die erforderlichen beiden Trauzeugen bringe ich mit. Der Termin beim Standesbeamten ist um vier Uhr. Ich habe eine Suite im Hotel Hyde gemietet und die Zimmer bereits bezogen, sodass wir hinaufgehen können, ohne im Foyer warten zu müssen. Wir nennen uns Mr. und Mrs. Woolridge. Trage einen Schleier.
Ich liebe Dich.
Dein Verlobter W.
Mit bebender Hand legte Maud den Brief auf die polierte Mahagoniplatte der Frisierkommode. Ihr Atem ging schneller. Sie starrte auf die geblümte Tapete und versuchte, klar zu denken.
Walter hatte den Zeitpunkt gut ausgewählt: Am Nachmittag war alles ruhig, sodass sie, Maud, sich am ehesten unbemerkt aus dem Haus schleichen konnte. Nach dem Mittagessen machte Tante Herm ein Nickerchen, und Fitz war im Oberhaus.
Fitz durfte im Voraus nichts erfahren, denn er würde versuchen, sie aufzuhalten; er würde sie in ihr Zimmer einschließen. Er konnte sie sogar ins Irrenhaus einweisen lassen. Ein reicher Gentleman aus der Oberschicht stieß auf keine Schwierigkeiten, wenn er eine weibliche Verwandte wegsperren lassen wollte. Fitz bräuchte nur zwei Ärzte aufzutreiben, die bereit waren, ihm zu bestätigen, dass Maud verrückt sein müsse, wenn sie einen Deutschen heiraten wollte.
Maud beschloss, niemandem auch nur ein Sterbenswort zu sagen.
Der falsche Name und der Schleier deuteten darauf hin, dass auch Walter auf Heimlichkeit Wert legte. Das Hyde war ein diskretes Hotel in Knightsbridge, sodass kaum zu befürchten stand, dass sie jemandem begegneten, den sie kannten. Maud schauderte erwartungsvoll bei dem Gedanken, die Nacht mit Walter zu verbringen.
Aber was würden sie am nächsten Tag tun? Eine Ehe konnte man nicht für immer geheim halten. Walter müsste England in zwei bis drei Tagen verlassen. Würde sie ihn begleiten? Sie hatte Angst, es könnte seiner Karriere schaden. Wie konnte man darauf vertrauen, dass er alles für sein Land gab, wenn er mit einer Engländerin verheiratet war? Und wenn er kämpfte, wäre er nicht zu Hause – welchen Sinn hätte es da, mit ihm nach Deutschland zu gehen?
Es gab so viele Unsicherheiten, so viele Unbekannte; trotzdem war Maud voller freudiger Erwartungen. »Mrs. Woolridge«, sagte sie laut ins leere Schlafzimmer hinein und schlang entzückt die Arme um ihre Schultern.
Kapitel 11
4. August 1914
Bei Sonnenaufgang stand Maud auf, setzte sich an die Frisierkommode und schrieb einen Brief. In ihrer Schublade hatte sie einen Stapel von Fitz’ blauem Papier, und das silberne Tintenfass wurde jeden Tag aufgefüllt.
Mein
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