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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Doch was für Grigori offensichtlich war, schienen viele seiner Kameraden nicht zu wissen, denn als er es erwähnte, waren die meisten überrascht. Viele wussten gar nicht, wo Deutschland lag.
    Es war erst das zweite Mal, dass Grigori mit dem Zug fuhr. Beim ersten Mal – er erinnerte sich lebhaft daran – war er elf gewesen. Seine Mutter hatte ihn und den kleinen Lew nach Sankt Petersburg gebracht. Sein Vater war ein paar Tage zuvor gehenkt worden, und Grigori war voller Angst und Trauer gewesen, zugleich aber neugierig und aufgeregt wegen der bevorstehenden Eisenbahnfahrt, so, wie es jedem Jungen in seinem Alter ergangen wäre. Der Ölgestank der Lokomotive, die riesigen Räder, die lärmende, polterige Kumpelhaftigkeit der Bauern in der dritten Klasse und die unfassbare Geschwindigkeit des Zuges – das alles war schrecklich faszinierend gewesen. Ein bisschen von dieser Aufregung und Faszination empfand Grigori auch jetzt, Jahre später, und irgendwie überkam ihn das Gefühl, zu einem großen Abenteuer aufzubrechen, so schrecklich und gefährlich es auch sein mochte.
    Diesmal aber reiste er in einem Viehwaggon wie alle anderen auch, mit Ausnahme der Offiziere. In dem Waggon drängten sich gut vierzig Männer: blasse, misstrauisch dreinschauende Fabrikarbeiter aus Sankt Petersburg; langbärtige, bedächtig sprechende Bauern, die alles und jeden voller Neugier beäugten, sowie ein halbes Dutzend dunkeläugige, schwarzhaarige Juden.
    Einer der Juden saß neben Grigori und stellte sich ihm als David vor. Sein Vater, erzählte er, stelle im Hinterhof seines Hauses Blecheimer her und ziehe dann von Dorf zu Dorf, um die Eimer zu verkaufen. Es gebe viele Juden in der Armee, sagte David, denn Juden könnten sich nur schwer vom Militärdienst freikaufen.
    Sie alle unterstanden einem Sergeanten namens Iwanow, einem besorgt dreinblickenden Kerl, der ständig Befehle brüllte und dabei nicht mit Schimpfwörtern sparte. Für ihn schien jeder seiner Männer ein Bauer zu sein, die er als »Kuhficker« bezeichnete. Iwanow war ungefähr in Grigoris Alter, also zu jung, um schon im Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05 gedient zu haben. Grigori vermutete, dass unter Iwanows rauer Fassade genauso viel Angst schlummerte wie bei allen anderen.
    Alle paar Stunden hielt der Zug an einem kleinen Bahnhof auf dem Land, und die Männer stiegen aus. Manchmal bekamen sie Suppe und Bier, manchmal nur Wasser. Zwischen den Aufenthalten saßen sie auf dem Boden des dahinratternden Waggons. Iwanow ließ die Männer die Gewehre reinigen, ging mit ihnen noch einmal die verschiedenen militärischen Ränge durch und erklärte ihnen, wie man Offiziere ansprechen musste. Offiziere im Allgemeinen wurden »Euer Gnaden« genannt, während Generäle, die überdies ausnahmslos dem Adel entstammten, zusätzliche Ehrbezeichnungen erwarten durften, zum Beispiel »Exzellenz« oder »Durchlaucht«.
    Grigori fragte den Sergeanten, zu welchem Teil der Armee sie eigentlich gehörten. Natürlich wusste er, dass sie im Narwa-Regiment dienten, doch niemand hatte ihm gesagt, welche Rolle dieses Regiment innerhalb der riesigen Armee spielte. Doch Iwanow schien die Frage nicht beantworten zu können, denn er sagte: »Das geht dich einen Scheißdreck an. Geh einfach da hin, wo man dich hinschickt, und tu, was man dir sagt.«
    Nach anderthalb Tagen hielt der Zug in einem Ort mit Namen Ostrolenka. Grigori hatte noch nie von dieser Stadt gehört, aber er sah, dass die Bahnstrecke hier endete; vermutlich lag sie in der Nähe der deutschen Grenze. Hier wurden Hunderte von Eisenbahnwaggons entladen. Männer und Pferde schwitzten und keuchten, als sie Geschütze von den Waggons zogen; es wimmelte von Tausenden Soldaten, und übellaunige Offiziere suchten ihre Züge und Kompanien zusammen. Auf dem riesigen Areal mischten sich das Poltern von Pferdehufen und das Rumpeln schwerer Karren mit einem unablässigen Stimmengewirr, Geschrei und Gebrüll. Tonnen von Nachschub mussten auf Pferdewagen verfrachtet werden: Schweinehälften, Mehlsäcke, Bierfässer, Munitionskisten und Hafer für die Pferde.
    Plötzlich entdeckte Grigori das verhasste Gesicht des Fürsten Andrej. Er trug eine prachtvolle Uniform mit so vielen Verzierungen und Abzeichen, dass Grigori nicht imstande war, das Regiment oder den Rang des Fürsten zu erkennen. Andrej ritt auf einem großen, haselnussbraunen Pferd. Ihm folgte ein Korporal mit einem Vogelkäfig, in dem ein Kanarienvogel saß.
    Ich könnte ihn hier und

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