Sturz der Titanen
zurückgerufen hatte, und den Generalmajor Erich Ludendorff. Mit seinen neunundvierzig Jahren gehörte Ludendorff zu den jüngeren Generalen. Walter bewunderte ihn für seinen raschen Aufstieg und freute sich darauf, ihm als Nachrichtenoffizier dienen zu können.
Auf dem Weg von Belgien nach Preußen hielten sie am Sonntag, dem 23. August, kurz in Berlin an, wo Walter auf dem Bahnsteig ein paar Minuten mit seiner Mutter, Susanne von Ulrich, verbringen konnte. Ihre schmale Nase war von einer Sommererkältung gerötet. Vor Aufregung zitternd drückte sie ihren Sohn an sich. »Du bist in Sicherheit«, sagte sie erleichtert.
»Ja, Mutter, ich bin in Sicherheit.«
»Ich mache mir schreckliche Sorgen um Zumwald. Die Russen sind so nah.«
»Es wird schon nichts passieren.«
Aber so leicht ließ seine Mutter sich nicht beruhigen. »Ich habe mit der Kaiserin gesprochen.« Sie war mit Kaiserin Auguste Viktoria gut bekannt. »Und mehrere andere Damen ebenfalls.«
»Du solltest die kaiserliche Familie nicht behelligen«, tadelte Walter sie. »Sie haben schon genug Sorgen.«
Susanne schniefte. »Wir können unsere Güter doch nicht der russischen Armee überlassen!«
Walter fühlte mit ihr. Auch er hasste die Vorstellung, dass primitive russische Bauern und ihre barbarischen, die Knute schwingenden Herren sich über die gepflegten Weiden und Obsthaine der von Ulrich’schen Besitzungen hermachten. Die hart schuftenden deutschen Bauern mit ihren kräftigen Frauen, sauberen Kindern und fetten Kühen verdienten es, beschützt zu werden. War das nicht der Sinn eines jeden Krieges? Außerdem hatte Walter die Absicht, Maud eines Tages mit nach Zumwald zu nehmen und ihr das Gut der Familie zu zeigen. »Ludendorff wird den russischen Vormarsch aufhalten, Mutter«, sagte er und hoffte, dass nicht bloß der Wunsch der Vater dieses Gedankens war.
Ehe seine Mutter etwas erwidern konnte, ertönte das Zugsignal, und nach einem Kuss auf die Wange stieg Walter wieder ein.
Als die Fahrt weiterging, hing er düsteren Gedanken nach. Er fühlte sich zum Teil mitverantwortlich für die Rückschläge der Deutschen an der Ostfront. Er hatte zu den Experten gehört, die vorhergesagt hatten, die Russen könnten unmöglich so kurz nach Beginn der Mobilmachung angreifen. Wann immer er daran dachte, wäre er vor Scham am liebsten im Boden versunken. Dennoch glaubte er, nicht ganz unrecht gehabt zu haben mit seiner Vermutung, dass die Russen schlecht vorbereitete, unterversorgte Truppen an die Front schickten.
Dieser Verdacht wurde verstärkt, als Walter später an diesem Sonntag mit dem Rest von Ludendorffs Gefolge in Ostpreußen eintraf. Berichten zufolge hatte die 1. Armee der Russen im Norden haltgemacht. Sie war nur wenige Kilometer auf deutsches Territorium vorgerückt, und die militärische Logik verlangte, den Vorstoß fortzusetzen. Worauf warteten sie also? Walter vermutete, dass ihnen schlicht der Proviant ausgegangen war.
Aber der südliche Arm der Zange stieß weiter vor, und Ludendorffs oberstes Ziel war es, ihn aufzuhalten.
Am folgenden Morgen – am Montag, dem 24. August – überbrachte Walter seinem Chef Ludendorff zwei russische Funksprüche, die der deutsche Nachrichtendienst abgefangen und übersetzt hatte.
Die erste Nachricht war um fünf Uhr dreißig an diesem Morgen von General Rennenkampf geschickt worden, dem Oberbefehlshaber der russischen 1. Armee, und enthielt die Marschbefehle für diesen Truppenteil. Rennenkampf hatte sich wieder in Bewegung gesetzt, doch statt sich nach Süden zu wenden, um sich mit der 2. Armee zu vereinen und den Kessel zu schließen, marschierte er unerklärlicherweise geradewegs nach Westen – auf einer Linie, die keine Bedrohung für die deutschen Streitkräfte darstellte.
Die zweite Nachricht war eine Stunde später von General Samsonow abgeschickt worden, dem Oberbefehlshaber der 2. Armee. Er befahl seinem XIII . und XV . Korps, dem deutschen XX . Korps nachzusetzen, das angeblich auf dem Rückzug war.
»Das ist erstaunlich«, sagte Ludendorff. »Wie sind wir an diese Information gekommen?« Er schien misstrauisch zu sein, als hätte er den Verdacht, Walter wolle ihn auf den Arm nehmen. Walter wiederum hatte das Gefühl, dass Ludendorff ihm, dem Angehörigen des alten Militäradels, misstraute.
»Kennen wir ihre Codes?«, fragte der Generalmajor.
»Sie benutzen keine Codes«, antwortete Walter.
»Sie übermitteln ihre Befehle in Klartext? Warum tun sie das, Teufel noch eins?«
»Auf
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