Sturz der Titanen
wunderschönen Landstrich ohne Gegenwehr aufgegeben hatten.
»Wie heißt dieser Teil von Deutschland, Euer Gnaden?«, erkundigte Grigori sich bei Leutnant Tupolew.
»Die Deutschen nennen es Ostpreußen.«
»Ist es der reichste Teil von Deutschland?«
»Ich glaube nicht«, antwortete der Leutnant. »Ich sehe keine Paläste.«
»Ist das einfache Volk in Deutschland reich genug, dass es in solchen Häusern leben kann?«
»Es scheint so.«
Offensichtlich wusste der junge Leutnant genauso wenig wie Grigori.
Nachdenklich marschierte Grigori weiter. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass selbst die einfachen Deutschen so gut lebten. Wie mochte es bei einem so reichen Volk dann erst um die Schlagkraft der Armee bestellt sein?
Schließlich war es Isaak, der Grigoris Ängsten Ausdruck verlieh. »Unsere Armee hat jetzt schon Probleme, uns zu ernähren, dabei haben wir noch keinen einzigen Schuss abgefeuert«, sagte er leise. »Wie sollen wir da gegen einen Feind kämpfen, der so gut organisiert ist, dass bei ihm sogar die Schweine in Häusern aus Stein leben?«
Walter war erfreut über die Ereignisse in Europa. Alles deutete auf einen kurzen Krieg und einen schnellen Sieg für Deutschland hin. Vielleicht würde er Weihnachten schon wieder mit Maud vereint sein.
Solange er nicht fiel, hieß das. Doch wenn es ihn erwischte, würde er zumindest als glücklicher Mann sterben.
Wann immer er sich an die Nacht erinnerte, die er und Maud gemeinsam verbracht hatten, überkam ihn ein warmes Gefühl: Sie hatten keine der kostbaren Sekunden vergeudet, die ihnen vergönnt gewesen waren. Nachdem die anfänglichen Schwierigkeiten überwunden waren, hatten sie sich dreimal geliebt; jedes Mal hatten sie nachher nebeneinandergelegen, geredet und einander gestreichelt. Es waren Gespräche gewesen, wie Walter sie noch nie erlebt hatte. Er konnte Maud einfach alles sagen. Nie zuvor hatte er sich einem anderen Menschen so nahe gefühlt.
Erst gegen Sonnenaufgang hatten sie sich getrennt. Maud musste zurück ins Haus ihres Bruders und den Bediensteten vorschwindeln, sie hätte einen Morgenspaziergang gemacht; Walter musste in seine Wohnung, sich umziehen, eine Reisetasche packen und die Anweisung hinterlassen, dass der Rest seiner Besitztümer nach Berlin geschickt werden solle.
Im Taxi auf der Fahrt von Knightsbridge nach Mayfair hatten sie Händchen gehalten und nur wenig gesprochen. An der Ecke zu Fitz’ Straße ließ Walter das Taxi halten, und Maud hatte ihn noch einmal mit verzweifelter Leidenschaft geküsst. Dann war sie fort gewesen, und Walter hatte sich gefragt, ob er sie je wiedersehen würde.
Der Krieg hatte vielversprechend begonnen. Die deutsche Armee war durch Belgien gestürmt. Weiter im Süden waren die Franzosen, die sich mehr von Sentiments als von Strategie leiten ließen, in Lothringen eingefallen, aber von der deutschen Artillerie in Grund und Boden geschossen worden und befanden sich auf dem Rückzug.
Japan hatte sich auf die Seite der Franzosen und Briten gestellt, sodass im Fernen Osten russische Einheiten frei geworden waren und nach Europa verlegt werden konnten. Aber zu Walters großer Erleichterung hatten die Amerikaner ihre Neutralität erklärt. Wie klein die Welt doch geworden war, sinnierte er: Japan lag so weit im Osten, wie man es sich nur vorstellen konnte, und Amerika im fernen Westen. Dieser Krieg umspannte die ganze Welt.
Dem deutschen Nachrichtendienst zufolge hatten die Franzosen eine wahre Flut von Telegrammen nach Sankt Petersburg geschickt und den Zaren angefleht, endlich anzugreifen. Sie hofften, die Deutschen auf diese Weise von Frankreich abzulenken. Tatsächlich hatten die Russen weit schneller reagiert, als allgemein erwartet worden war. Ihre 1. Armee hatte alle Welt überrascht, als sie nur zwölf Tage nach Beginn der Mobilmachung die deutsche Grenze überschritten hatte. Gleichzeitig war im Süden die 2. Armee vom Eisenbahnknotenpunkt Ostrolenka aus vorgerückt. In einer Zangenbewegung marschierten beide Armeen auf Tannenberg zu, ohne dass ihnen Widerstand geleistet wurde.
Doch die untypische Erstarrung der Deutschen, die diesen Vormarsch ermöglicht hatte, endete schon bald. Der deutsche Oberbefehlshaber in diesem Gebiet, Generaloberst von Prittwitz und Gaffron, den seine Soldaten nur »den Dicken« nannten, war von der Heeresleitung klugerweise entlassen und durch zwei Befehlshaber ersetzt worden: den General der Infanterie Paul von Hindenburg, den man aus dem Ruhestand
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