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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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jetzt erschießen, überlegte Grigori, und meinen Vater rächen. Aber das war natürlich ein dummer Gedanke. Dennoch strich Grigori über den Abzug seines Gewehrs, als Fürst und Vogel in der Menge verschwanden.
    Das Wetter war heiß und trocken. In dieser Nacht schlief Grigori mit den anderen Männern aus seinem Waggon auf der nackten Erde. Sie alle bildeten einen Zug und würden auf absehbare Zeit zusammenbleiben. Am nächsten Morgen lernten sie ihren Offizier kennen, einen beunruhigend jungen Leutnant zweiten Grades mit Namen Tupolew. Er führte sie aus Ostrolenka hinaus nach Nordwesten.
    Von Leutnant Tupolew erfuhr Grigori, dass sie zum XIII . Armeekorps gehörten, das von General Klujew befehligt wurde; das XIII . Korps wiederum war Teil der 2. Armee unter General Samsonow. Als Grigori diese Information an die anderen Männer weitergab, erschraken sie, denn die Zahl 13 bedeutete Unglück. Sergeant Iwanow schimpfte: »Ich habe dir doch gesagt, Peschkow, das geht dich nichts an, du verdammter Schwanzlutscher!«
    Sie hatten sich noch nicht weit von der Stadt entfernt, als die befestigte Straße sich in einen Sandweg verwandelte, der durch einen Wald führte. Die Wagen fuhren sich fest, und die Kutscher mussten erkennen, dass ein einzelnes Pferd keinen voll beladenen Armeewagen durch den Sand ziehen konnte. Also wurden die Pferde umgespannt. Fortan zogen je zwei einen Wagen; dafür aber musste jeder zweite Wagen am Straßenrand zurückgelassen werden.
    Sie marschierten den ganzen Tag und schliefen erneut unter den Sternen. Wieder ist ein Tag vergangen, sagte Grigori sich in der Stille der Nacht, und ich lebe noch immer und kann mich um Katherina und das Kind kümmern.
    An Abend hatte Tupolew keine Befehle erhalten; also saßen die Männer den ganzen nächsten Morgen unter den Bäumen, was Grigori nur recht sein konnte. Seine Beine schmerzten vom Marsch am Tag zuvor, und seine neuen Stiefel drückten und rieben an den Füßen. Die Bauern jedoch waren es gewöhnt, den ganzen Tag auf den Beinen zu sein, und lachten über die verweichlichten Städter.
    Gegen Mittag überbrachte ihnen ein Melder den Befehl, um acht Uhr aufzubrechen – mit anderen Worten, vier Stunden zuvor!
    Die marschierenden Soldaten wurden nicht mit Wasser versorgt; also mussten sie aus Brunnen und Bächen trinken, an denen sie vorüberkamen. So lernten die Männer schon bald, bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu trinken und ihre Feldflaschen zu füllen. Es gab keine Möglichkeit zum Kochen; die einzige Nahrung, die die Soldaten erhielten, waren knochentrockene, steinharte Kekse. Alle paar Meilen wurden sie überdies zu einem Wagen oder einer Lafette gerufen, die im Schlamm oder einer Sandgrube stecken geblieben war.
    Sie marschierten bis Sonnenuntergang; dann schliefen sie erneut unter den Bäumen.
    Gegen Mittag des dritten Tages verließen sie ein Waldstück und erblickten einen schmucken Bauernhof inmitten fast erntereifer Hafer- und Weizenfelder. Das Hauptgebäude war zwei Stockwerke hoch und besaß ein steiles Giebeldach. Im Hof gab es einen mit Beton ummantelten Brunnen; ein Stück entfernt stand ein niedriges Steingebäude, das ein Schweinestall zu sein schien, obwohl es sauber war. Der Hof sah wie das Heim eines wohlhabenden Bezirkshauptmanns aus oder wie der Besitz einer jungen Adligen. Alles war verriegelt und verschlossen, der Hof menschenleer.
    Eine Meile weiter führte die Straße zum allgemeinen Erstaunen durch ein ganzes Dorf ähnlich schmucker Gebäude. Auch hier war keine Menschenseele zu erblicken. Mit einem Mal wurde Grigori klar, dass sie die Grenze zu Deutschland überschritten haben mussten: Das hier waren die feudalen Häuser deutscher Bauern, die mit ihren Familien und ihrem Vieh vor der anrückenden russischen Armee geflohen waren. Aber wo waren die Hütten der armen Bauern? Was hatte man mit dem Mist der Schweine und Kühe gemacht? Warum gab es hier keine schmutzigen Kuhställe mit geflickten Lehmwänden und löchrigen Dächern?
    Die Soldaten jubelten. »Sie laufen vor uns weg!«, rief ein Bauer. »Sie haben Angst vor uns. Wir werden Deutschland erobern, ohne einen einzigen Schuss abzufeuern!«
    Aus Konstantins Diskussionsgruppe wusste Grigori, dass die Deutschen vorhatten, zuerst Frankreich zu besiegen und sich dann gegen Russland zu wenden. Die Deutschen dachten nicht im Traum daran, sich zu ergeben; sie warteten nur auf den richtigen Zeitpunkt, um zurückzuschlagen. Trotzdem war es eine Überraschung, dass sie diesen

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