Sturz der Titanen
krank?«
»Was geht’s dich an?« Die Frau stand von ihrer Nähmaschine auf. »Ich bin Mildred – und wer bist du?«
Billy starrte sie an. Sie war trotz ihrer Hasenzähne hübsch. Sie trug leuchtend roten Lippenstift, und unter ihrem Hut lugten helle Löckchen hervor. Sie hatte sich in einen dicken, formlosen grauen Mantel gehüllt; trotzdem sah er den Schwung ihrer Hüften, als sie auf ihn zukam. Billy war zu sehr von ihr gebannt, als dass er hätte antworten können.
Sie fragte: »Sag mal, du bist doch wohl nicht das Schwein, das sie dickgemacht hat und das dann abgehauen is’?«
Billy fand seine Stimme wieder. »Ich … bin ihr Bruder.«
»Was!«, rief sie. »Heilige Scheiße, du bist Billy?«
Billy fiel die Kinnlade herunter. So hatte er noch keine Frau reden hören.
Sie musterte ihn mit furchtlosem Blick. »Ja, du bist ihr Bruder, ich kann’s sehen, aber du siehst älter aus als wie sechzehn.« Ihre Blicke gingen Billy durch und durch, sodass ihm ganz heiß wurde. »Du has’ die gleichen dunklen Augen und ihr lockiges Haar.«
»Wo kann ich sie finden?«, fragte Billy.
Sie schaute ihn herausfordernd an. »Ich weiß zufällig, dass ihre Familie nich’ rausfinden soll, wo sie wohnt.«
»Sie hat Angst vor meinem Vater«, entgegnete Billy. »Aber mir hat sie einen Brief geschickt. Ich hab mir Sorgen um sie gemacht, deshalb bin ich mit dem Zug hierhergekommen.«
»Den ganzen weiten Weg von diesem Kaff in Wales, von wo sie herkommt?«
»Es ist kein Kaff!«, erwiderte Billy beleidigt. Dann zuckte er mit den Schultern und sagte: »Na ja, wahrscheinlich schon.«
»Ich find deinen Dialekt süß«, sagte Mildred. »Hört sich an, als würde einer singen.«
»Weißt du, wo Ethel wohnt?«
»Wie haste den Laden hier gefunden?«
»Sie hat geschrieben, sie arbeitet für Mannie Litov in Aldgate.«
»Du bist ja ’n richtiger kleiner Sherlock Holmes, was?«, entgegnete Mildred mit einem Unterton widerwilliger Bewunderung.
»Wenn du mir nicht sagst, wo sie ist, sagt’s mir jemand anders«, erklärte Billy zuversichtlicher, als ihm zumute war. »Ich fahre nicht heim, bevor ich sie nicht gesehen hab.«
»Sie wird mich umbringen, aber das is’ schon in Ordnung«, sagte Mildred. »Nutley Street Nummer dreiundzwanzig.«
Billy bat sie um eine Wegbeschreibung. Er fragte auch, ob sie langsam sprechen könne.
»Du brauchst dich nich’ zu bedanken«, sagte sie, als Billy sich verabschiedete. »Hauptsache, du beschützt mich, wenn Ethel mich umbringen kommt.«
»Geht klar«, sagte Billy und stellte sich vor, wie aufregend es wäre, Mildred vor irgendetwas zu beschützen.
Die anderen Frauen johlten Abschiedsgrüße und warfen Billy Küsschen zu, was ihm schrecklich peinlich war.
Die Nutley Street war eine Oase der Ruhe. Die Bauweise der Reihenhäuser kannte Billy schon aus anderen Londoner Straßenzügen. Sie waren viel größer als die Häuser der Bergarbeiter und hatten einen kleinen Vorgarten, statt dass die Eingangstür unmittelbar an die Straße grenzte. Einen Eindruck von Ordnung und Stetigkeit erzeugten Reihen aus Schiebefenstern mit zwölf Glasscheiben, die an der gesamten Häuserzeile gleich waren.
Billy klopfte an die Tür von Nummer 23, aber niemand öffnete.
Seine Besorgnis wuchs. Warum war Ethel nicht zur Arbeit gegangen? War sie krank? Und wenn, warum war sie dann nicht zu Hause?
Durch den Briefkastenschlitz sah er einen Flur mit gebohnertem Boden und einen Kleiderständer mit einem alten braunen Mantel, den er wiedererkannte. An einem kalten Tag wie diesem konnte Ethel nicht ohne ihren Mantel auf die Straße gegangen sein.
Billy trat nahe ans Fenster und versuchte hindurchzublicken, konnte aber nicht durch die Tüllgardine schauen.
Er ging zur Tür zurück und spähte noch einmal durch den Briefkastenschlitz. Im Inneren des Hauses hatte sich nichts verändert, aber diesmal hörte er etwas: ein lang gezogenes, schmerzvolles Stöhnen. Billy legte den Mund an den Briefkastenschlitz und rief: »Eth! Bist du das? Ich bin’s, Billy! Ich bin hier draußen!«
Längeres Schweigen; dann war wieder das Stöhnen zu vernehmen.
»Hölle und Verdammnis«, fluchte Billy.
Die Tür hatte ein Zylinderschloss. Also wurde das Schließblech wahrscheinlich mit zwei Schrauben am Rahmen gehalten. Billy schlug mit dem Handballen gegen die Tür. Sie wirkte nicht besonders kräftig, und er hielt das Holz für billige Fichte. Außerdem war es viele Jahre alt. Er lehnte sich zurück, hob das rechte Bein und trat mit
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