Sturz der Titanen
bereits am Bahnsteig stand.
Lew rannte über den Platz in die Schalterhalle. Die Zeiger der großen Uhr standen auf einer Minute vor sechs. Er eilte an den Fahrkartenschalter und fischte Geld aus der Tasche. »Eine Fahrkarte bitte«, sagte er.
»Wohin darf es heute Abend denn gehen?«, fragte der Beamte freundlich.
Lew wies drängend auf den Bahnsteig. »Für den Zug da!«
»Er hält in Aberdare, Pontypridd …«
»Cardiff!« Lew hob den Blick: Der Minutenzeiger schob sich mit einem leichten Zittern auf die Position der vollen Stunde.
»Einzelfahrschein oder Rückfahrkarte?«, fragte der Beamte in aller Seelenruhe.
»Einzelne Fahrt, und schnell!«
Lew hörte die Pfeife. Verzweifelt sah er die Münzen in seiner Hand durch. Er kannte den Fahrpreis – er war im letzen halben Jahr zweimal in Cardiff gewesen – und legte Geld auf den Teller.
Der Zug fuhr an.
Der Beamte hielt ihm die Fahrkarte hin.
Lew riss sie ihm aus der Hand und drehte sich um.
»Vergessen Sie nicht Ihr Wechselgeld!«, rief der Beamte.
Lew eilte die wenigen Schritte zur Barriere. »Fahrkarte bitte«, sagte der Kontrolleur, als hätte er nicht gerade erst gesehen, wie Lew die Fahrkarte gekauft hatte.
Lew blickte an der Barriere vorbei und sah, wie der Zug Geschwindigkeit aufnahm.
Der Kontrolleur lochte die Fahrkarte. »Möchten Sie Ihr Wechselgeld nicht?«, fragte er.
Die Tür der Schalterhalle flog auf, und die Ponti-Brüder stürmten herein. »Haben wir dich, du Dreckskerl!«, brüllte Joey und stürmte auf Lew zu.
Lew überraschte ihn, indem er auf ihn zutrat und ihm die Faust mitten ins Gesicht schlug. Joey blieb wie angewurzelt stehen. Johnny prallte von hinten gegen seinen Bruder, und beide brachen in die Knie.
Lew riss dem Kontrolleur seine Fahrkarte aus der Hand und rannte auf den Bahnsteig. Der Zug fuhr schon ziemlich schnell. Ein kurzes Stück rannte Lew neben ihm her. Plötzlich öffnete sich eine Tür, und Lew blickte in das freundliche Gesicht von Billy-with-Jesus.
»Spring!«, rief der Junge.
Lew sprang hoch und bekam einen Fuß auf die Stufe. Billy packte seinen Arm. Einen Augenblick lang schwankten sie, während Lew verzweifelt versuchte, sich in den Waggon zu wuchten. Dann bekam Billy die Oberhand und zerrte Lew ins Innere.
Lew ließ sich dankbar auf einen Sitz sinken.
Billy zog die Tür zu und setzte sich ihm gegenüber.
»Danke«, sagte Lew.
»Das haste aber knapp abgepasst«, sagte Billy.
»Aber ich hab’s geschafft«, erwiderte Lew grinsend. »Alles andere ist unwichtig.«
Am nächsten Morgen erkundigte Billy sich an der Paddington Station nach dem Weg nach Aldgate. Ein freundlicher Londoner gab ihm in rascher Folge detaillierte Anweisungen, und Billy fand jedes Wort vollkommen unverständlich. Er bedankte sich bei dem Mann und verließ das Bahnhofsgebäude.
Er war noch nie in London gewesen, wusste aber, dass Paddington im Westen lag und die armen Leute im Osten wohnten, also ging er in Richtung der Vormittagssonne.
Die Stadt war noch größer, als er sie sich vorgestellt hatte, viel geschäftiger und verwirrender als Cardiff, aber er genoss sie: ihren Lärm, ihren wimmelnden Verkehr, ihre Menschenmassen und vor allem ihre Geschäfte. Nie hätte er gedacht, dass es auf der Welt so viele Läden geben könnte. Wie viel Geld wird wohl jeden Tag in den Londoner Geschäften ausgegeben, fragte er sich. Es mussten Tausende Pfund sein, wenn nicht gar Millionen.
Billy empfand ein fast berauschendes Gefühl der Freiheit. Hier kannte ihn niemand. In Aberowen – oder auch bei seinen gelegentlichen Abstechern nach Cardiff – musste er stets damit rechnen, dass Freunde oder Verwandte ihn sahen. In London könnte er Hand in Hand mit einem bildhübschen Mädchen die Straße entlanggehen, und seine Eltern würden es nie erfahren. Nicht dass er es vorhatte, aber der Gedanke, dass es möglich wäre, und die Tatsache, dass hier so viele hübsche, gut angezogene Mädchen umherliefen – beides machte ihn geradezu schwindlig.
Nach einer Weile entdeckte er einen Bus, auf dessen Vorderseite »Aldgate« geschrieben stand, und er sprang hinein. Ethel hatte Aldgate in ihrem Brief erwähnt.
Nachdem Billy ihren Brief entschlüsselt hatte, war er sehr besorgt gewesen. Natürlich konnte er darüber nicht mit seinen Eltern sprechen. Er hatte gewartet, bis sie zum Abendgottesdienst in die Bethesda-Kapelle gegangen waren, die er ja nicht mehr besuchte; dann hatte er einen Zettel geschrieben:
Liebe Mam!
Ich mache mir Sorgen um
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