Sturz der Titanen
winzigen Finger. Er hatte das Gefühl, Zeuge eines Wunders geworden zu sein. Erst jetzt bemerkte er, dass sein Gesicht feucht von Tränen war, und er fragte sich, wann er geweint hatte, denn er konnte sich gar nicht daran erinnern.
Ziemlich bald schlief der Kleine ein. Ethel knöpfte ihr Kleid zu. »Gleich waschen wir ihn«, sagte sie und schloss die Augen. »Mein Gott«, sagte sie. »Ich habe nicht gewusst, dass es so wehtut.«
Billy fragte: »Wer ist der Vater?«
»Earl Fitzherbert«, antwortete sie. Dann riss sie die Augen auf. »Oh, verflixt, das wollte ich dir gar nicht sagen.«
»Das Dreckschwein!«, stieß Billy hervor. »Ich bring ihn um!«
Kapitel 15
Juni bis September 1915
Als das Schiff im Hafen von New York einlief, war Lew Peschkow der Gedanke gekommen, dass Amerika vielleicht doch nicht ganz so wunderbar sei, wie sein Bruder Grigori gesagt hatte. Innerlich hatte er sich auf eine schreckliche Enttäuschung vorbereitet, was sich jedoch als Fehleinschätzung erwies, denn Amerika war genau so, wie Lew es sich erhofft hatte: reich, geschäftig, aufregend und frei.
Drei Monate später, an einem heißen Nachmittag im Juni, arbeitete Lew in einem Hotel in Buffalo im Stall und striegelte das Pferd eines Gastes. Das Hotel gehörte Joseph Vyalow, der eine Zwiebelkuppel auf die alte Central Tavern gesetzt und sie in »Hotel Sankt Petersburg« umbenannt hatte – vielleicht in nostalgischer Erinnerung an die Stadt, die er als Kind verlassen hatte.
Wie viele russische Emigranten in Buffalo arbeitete auch Lew für Vyalov, hatte den Mann aber noch nie gesehen, und sollte er ihn einmal kennenlernen, hätte er nicht gewusst, was er sagen sollte. Die Wjalows in Russland hatten Lew betrogen und ihn in Cardiff ausgesetzt, und das wurmte ihn noch immer. Andererseits hatten ihn die Papiere der Sankt Petersburger Wjalows problemlos durch die Einwanderungskontrolle gebracht, und als er den Namen in einer Bar an der Canal Street erwähnt hatte, hatte er sofort einen Job erhalten.
Seit nunmehr einem Jahr sprach Lew jeden Tag Englisch – seit er in Cardiff gelandet war –, und er beherrschte die Sprache beinahe fließend. Die Amerikaner sagten, er habe einen britischen Akzent, und sie kannten einige der Ausdrücke nicht, die er in Aberowen gelernt hatte. Aber er konnte alles sagen, was er sagen wollte, und die Mädchen fanden es großartig, wenn er sie mit einem britischen »meine Liebe« ansprach.
Ein paar Minuten vor sechs, kurz vor Feierabend, kam Lews Freund Nick in den Hof, eine Zigarette im Mundwinkel. »Fatima«, sagte er und sog mit übertriebenem Genuss den Rauch ein. »Türkischer Tabak. Wunderbar.«
Nicks vollständiger Name lautete Nikolaj Davidowitsch Fomek; hier wurde er bloß Nick Forman genannt. Gelegentlich übernahm er bei Lews Kartenspielen die Rolle, die früher Spirja und Rhys Price übernommen hatten; hauptsächlich aber war er ein Dieb.
»Wie viel?«, fragte Lew.
»Im Laden fünfzig Cent für eine Dose mit hundert Zigaretten. Für dich … sagen wir, zehn Cent. Verkauf sie für einen Vierteldollar.«
Lew wusste, dass Fatima eine beliebte Marke war. Es würde kein Problem sein, die Zigaretten zum halben Preis zu verkaufen. Er schaute sich auf dem Hof um. Sein Boss war nirgends zu sehen. »In Ordnung.«
»Wie viele willst du? Ich hab einen ganzen Koffer voll.«
Lew hatte einen Dollar in der Tasche. »Zwanzig Dosen«, sagte er. »Einen Dollar kriegst du jetzt und einen später.«
»Ich gebe keinen Kredit.«
Lew grinste und legte Nick die Hand auf die Schulter. »Komm schon, Kumpel, du kannst mir vertrauen. Wir sind doch Freunde, oder nicht?«
»Also gut, zwanzig. Ich bin gleich wieder zurück.«
Lew suchte sich einen alten Futtersack. Nick kehrte mit zwanzig länglichen grünen Dosen zurück, auf deren Deckeln eine verschleierte Frau zu sehen war. Lew steckte die Dosen in den Sack und reichte Nick einen Dollar. »Es ist mir immer wieder eine Freude, einem anderen Russen zur Hand zu gehen«, sagte Nick und schlenderte davon.
Lew reinigte Striegelbürste und Hufkratzer. Um fünf nach sechs verabschiedete er sich vom Stallknecht und ging in Richtung First Ward. Es machte ihn ein bisschen nervös, einen Futtersack durch die Straßen zu tragen, und er überlegte sich, was er sagen sollte, wenn ein Cop ihn anhielt und ihn fragte, was in dem Sack steckte. Doch allzu groß waren Lews Sorgen nicht. Er konnte sich aus jeder Situation herausreden.
Er ging zu einer großen, gut besuchten Bar mit
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