Sturz der Titanen
bedauernd. »Du bist immer noch das schönste Mädchen, das ich je getroffen hab.« Er tippte sich an die Mütze und ging davon.
»Was stimmt nicht mit ihm?«, fragte Mam erbost. »Du brauchst ’nen Mann, und er ist ’ne gute Partie!«
Ja, was stimmt nicht mit ihm, überlegte Ethel. Er war ein bisschen klein, aber diesen Mangel glich er durch seinen Charme aus. Er hatte gute Zukunftsaussichten und war bereit, das Kind eines anderen Mannes anzunehmen. Warum also hast du sofort gewusst, dass du nicht mit ihm ins Kino gehen willst, fragte sich Ethel. Glaubst du insgeheim noch immer, dass du für Aberowen zu schade bist?
Für die Honoratioren waren in der ersten Reihe Stühle aufgestellt worden. Fitz und Bea setzten sich neben Perceval Jones und Maldwyn Morgan, und der Gottesdienst begann.
Ethel war religiös, aber längst nicht so fromm wie Dah. Aber einen Gott musste es ja wohl geben. Allerdings vermutete Ethel, dass dieser Gott vernünftiger war, als ihr Vater es sich vorstellte. Dahs flammende Ablehnung der etablierten Kirchen hatte sich auf Ethel lediglich als milde Abneigung gegen Heiligenstatuen, Weihrauch und Latein vererbt. In London ging sie am Sonntagmorgen gelegentlich in die Calvary Gospel Hall, vor allem, weil der Pfarrer ein leidenschaftlicher Sozialist war, der es gestattete, dass seine Kirche für Mauds Klinik und für Treffen der Arbeiterpartei benutzt wurde.
Natürlich gab es im The Reck keine Orgel; daher brauchten die Puritaner ihre Einwände gegen Musikinstrumente nicht zu unterdrücken. Von Dah wusste Ethel, dass es Streit gegeben hatte, wer den Gesang anleiten sollte – eine Rolle, die in dieser Stadt wichtiger war als das Predigen. Am Ende wurde der Männerchor von Aberowen nach vorn gestellt, und der Chorleiter, der keiner speziellen Kirche angehörte, war für die Musik verantwortlich.
Es begann mit Händels »Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte«, einem beliebten Choral aus dem »Messias« mit herrlichem mehrstimmigem Gesang, den die Gemeinde fehlerlos absolvierte. Als sich bei der Zeile »Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln« Hunderte von Tenorstimmen über den Park erhoben, wurde Ethel bewusst, wie sehr sie diese Musik in London vermisst hatte.
Der katholische Priester las den 129. Psalm, »De Profundis« , auf Latein. Er sprach, so laut er konnte, wurde am Rand der Menge aber kaum noch verstanden. Der anglikanische Pfarrer las das Totengebet aus dem Book of Common Prayer , der Agende der Anglikanischen Kirche. Dilys Jones, ein junger Methodist, sang »Liebe, komm herab zur Erde«, ein Kirchenlied von Charles Wesley. Der baptistische Pfarrer las aus dem 1. Korintherbrief, Kapitel 15, die Verse 20 bis zum Ende.
Die Freikirchen schließlich sollten durch einen Prediger vertreten werden, und die Wahl war auf Ethels Dah gefallen. Er begann, indem er einen einzelnen Vers aus dem Brief des Paulus an die Römer, Kapitel 8, vorlas: »›So nun der Geist des, der Jesum von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird auch derselbe, der Christum von den Toten auferweckt hat, eure sterblichen Leiber lebendig machen um deswillen, dass sein Geist in euch wohnt.‹«
Dah hatte eine kräftige Stimme, die deutlich über den ganzen Park trug. Ethel war stolz auf ihn. Diese Ehre untermauerte seine Stellung als einer der wichtigsten Männer der Stadt, als spirituelle und politische Autorität. Außerdem sah er gut aus: Mam hatte ihm im Laden von Gwyn Evans in Merthyr eine neue schwarze Krawatte aus Seide gekauft.
Als Dah über die Auferstehung und das Leben nach dem Tod sprach, schweiften Ethels Gedanken ab. Das alles hatte sie schon einmal gehört. Sie nahm an, dass es ein Leben nach dem Tod gab, war sich allerdings nicht sicher. Aber das würde sie ja früh genug herausfinden. Erst als leichte Unruhe in der Menge entstand, horchte Ethel auf. Offenbar war Dah von den üblichen Themen abgewichen. Sie hörte ihn sagen: »… und so hat unser Land beschlossen, in den Krieg zu ziehen. Ich hoffe nur, jeder Abgeordnete hat sein Gewissen aufrichtig befragt und zu Gott dem Herrn gebetet, ihm den rechten Weg zu weisen. Dennoch bleibt die Frage: Wer hat diese Männer ins Parlament gebracht?«
Jetzt wird er politisch, dachte Ethel. Sehr gut, Dah! Dann vergeht dem anglikanischen Pfarrer wenigstens sein selbstgerechtes Grinsen.
»Grundsätzlich kann jeder Mann in unserem Land zum Militärdienst herangezogen werden. Aber nicht jedem Mann ist es gestattet, sich an der Entscheidung zu
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