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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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beteiligen, ob er überhaupt in den Krieg ziehen will!«
    Aus der Menge erhoben sich zustimmende Rufe.
    »Die Wahlrechtsbestimmungen schließen mehr als die Hälfte aller Männer in diesem Land aus!«
    Ethel rief: »Und alle Frauen!«
    »Still jetzt!«, ermahnte Mam sie. »Dein Dah ist am Predigen, nicht du.«
    »Mehr als zweihundert junge Männer aus Aberowen sind am ersten Julitag an den Ufern der Somme gefallen. Wie ich hörte, lagen die britischen Gesamtverluste an diesem Tag bei über fünfzigtausend!«
    Die Zuhörer schnappten entsetzt nach Luft. Nur sehr wenige Anwesende hatten diese Zahl gekannt. Dah wusste sie von Ethel; Maud hatte sie von ihren Freunden im Kriegsministerium erfahren.
    »Fünfzigtausend Verluste, davon zwanzigtausend Gefallene«, fuhr Dah fort. »Und die Schlacht geht immer noch weiter. Tag für Tag werden mehr junge Männer geopfert.« In der Menge erhoben sich zornige Stimmen, gingen jedoch in Rufen der Zustimmung unter. Dah bat um Ruhe, indem er die Hand hob. »Ich sage nicht, wer daran schuld ist. Ich sage nur: Solch ein Gemetzel kann nicht gerecht sein, wenn Männern zuvor verweigert wurde, sich für oder gegen den Krieg zu entscheiden.«
    Der anglikanische Pfarrer trat vor, um Dah zu unterbrechen, und Perceval Jones versuchte vergebens, auf das Podium zu klettern.
    Aber Dah war fast fertig. »Wenn wir jemals wieder gefragt werden, ob wir in einen Krieg ziehen wollen, darf es nicht ohne die Zustimmung des ganzen Volkes geschehen.«
    »Aller Männer und aller Frauen!«, rief Ethel, doch ihre Stimme ging im Jubel der Bergleute unter.
    Ein paar Männer standen nun vor Dah und brüllten auf ihn ein, doch seine Stimme übertönte den Lärm. »Nie wieder werden wir Krieg auf Anweisung einer Minderheit beginnen!«, donnerte er. »Nie wieder! Nie wieder! Nie wieder!«
    Er setzte sich, während der Beifall wie ein Gewittersturm toste.

Kapitel 19
    Juli bis Oktober 1916
    Kowel war ein Eisenbahnknotenpunkt in jenem Teil Russlands, der einst Polen gewesen war, nahe der alten Grenze zu Österreich-Ungarn. Die russische Armee sammelte sich zwanzig Meilen östlich der Stadt, an den Ufern des Flusses Stochid. Das ganze Gebiet war ein Sumpf, Hunderte von Quadratmeilen groß und von schmalen Pfaden durchzogen. Grigori fand einen Flecken trockenen Boden und befahl seinem Zug, ein Lager aufzuschlagen. Sie hatten keine Zelte – Major Azow hatte sie vor drei Monaten an eine Kleiderfabrik in Pinsk verkauft und erklärt, im Sommer bräuchten die Männer keine Zelte, und im Winter wären sie ohnehin alle tot.
    Wie durch ein Wunder lebte Grigori noch. Er war zum Sergeanten befördert worden, sein Freund Isaak zum Korporal. Tatsächlich waren die Männer, die die Kämpfe von 1914 überlebt hatten, inzwischen fast alle Unteroffiziere. Grigoris Bataillon war dezimiert, verlegt und verstärkt worden, bevor es wieder dezimiert wurde, und so weiter und so fort. Man hatte die Männer überall hingeschickt, nur nicht nach Hause.
    In den vergangenen zwei Jahren hatte Grigori viele Feinde getötet: mit dem Gewehr, mit dem Bajonett, sogar mit bloßen Händen. Den meisten war er nahe genug gewesen, um sie sterben zu sehen. Einige seiner Kameraden hatten Albträume davon bekommen, besonders die Gebildeten, nicht aber Grigori. Er war in der archaischen Welt eines Bauerndorfes aufgewachsen und hatte als Waisenkind auf den Straßen von Sankt Petersburg überlebt. Gewalt bescherte ihm keine Albträume.
    Was ihn schockierte, waren die Dummheit, Gefühllosigkeit und Verderbtheit der Offiziere. An der Seite der herrschenden Klasse zu leben und zu kämpfen hatte Grigori zu einem Revolutionär gemacht.
    Und er musste überleben. Er war der Einzige, der sich um Katherina kümmerte.
    Grigori schrieb ihr regelmäßig. Gelegentlich bekam auch er einen Brief in der ordentlichen Schrift eines Schulmädchens, aber mit sehr vielen Rechtschreibfehlern und Streichungen. Grigori bewahrte jeden dieser Briefe auf. Zu einem Bündel zusammengebunden trug er sie in seinem Rucksack bei sich. Wenn er einmal längere Zeit keinen neuen Brief bekam, las er die alten.
    In ihrem ersten Brief hatte Katherina ihm berichtet, dass sie einen Jungen zur Welt gebracht hatte, Wladimir, Lews Sohn, inzwischen achtzehn Monate alt. Grigori sehnte sich danach, den Jungen zu sehen. Lebhaft erinnerte er sich an Lew, als der noch ein Baby gewesen war. Ob Wladimir das gleiche unwiderstehliche Lächeln besaß? Inzwischen hatte er wohl schon Zähne und würde laufen und die

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