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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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unterbrochen und warteten. Auch Ethels Eltern waren herausgekommen; Dah war noch nicht zur Arbeit gegangen. Still und bleich standen sie neben Gramper.
    Geraint trat auf Mrs. Llewellyn zu. Ihr Sohn Arthur musste tot sein. »Spotty« hatten ihn alle genannt, erinnerte sich Ethel. Jetzt brauchte der arme Junge sich um seine Pickel keine Gedanken mehr zu machen.
    Mrs. Llewellyn hielt die Hände vor sich ausgestreckt, als könnte sie Geraint auf diese Weise abwehren. »Nein!«, schrie sie. »Nein, bitte nicht!«
    Geraint hielt ihr das Telegramm hin. »Ich kann’s nich’ ändern, Mrs. Llewellyn«, sagte er. Er war erst siebzehn. »Da steht vorn Ihre Adresse drauf, sehn Sie?«
    Noch immer wollte sie das Kuvert nicht annehmen. »Nein!«, rief sie, wandte sich ab und vergrub das Gesicht in den Händen.
    Die Lippen des Jungen bebten. »Bitte nehmen Sie’s«, sagte er. »Ich muss noch so viele abliefern. Und im Amt liegen noch mehr … Hunderte. Es is’ schon zehn, und ich weiß nicht, wie ich das alles vor heut Abend erledigen soll. Bitte.«
    Mrs. Llewellyns Nachbarin, Mrs. Roley Hughes, sagte: »Ich nehm’s für sie an. Ich hab keine Söhne.«
    »Vielen, vielen Dank, Mrs. Hughes«, sagte Geraint und konnte endlich weitergehen.
    Er zog ein weiteres Telegramm aus seiner Tasche, blickte auf die Adresse und ging am Haus der Griffiths’ vorbei. »O Gott, ich danke dir«, sagte Mrs. Griffiths inbrünstig. »Mein Tommy lebt, dem Herrn sei Dank.« Vor Erleichterung brach sie in Tränen aus. Ethel nahm Lloyd an die andere Hand und legte den freien Arm um sie.
    Der Bote trat auf Minnie Ponti zu. Sie schrie nicht, aber die Tränen liefen ihr das Gesicht hinunter. »Welcher?«, fragte sie mit brüchiger Stimme. »Joey oder Johnny?«
    »Weiß ich auch nich’, Mrs. Ponti«, antwortete Geraint. »Sie müssen gucken, was da drinsteht.«
    Sie riss den Umschlag auf. »Ich kann es nicht sehen!«, sagte sie schluchzend, rieb sich die Augen, versuchte, die Tränen loszuwerden, und schaute wieder hin. »Giuseppe!«, sagte sie. »Mein Joey ist tot … mein armer kleiner Joey!«
    Mrs. Ponti wohnte fast am Ende der Straße. Mit pochendem Herzen wartete Ethel ab, ob Geraint zum Haus ihrer Eltern ging oder nicht. Lebte Billy, oder war er tot?
    Der Bote wandte sich von der weinenden Mrs. Ponti ab. Er blickte über die Straße und schaute Dah, Mam und Gramper an, die ihn mit schrecklicher Vorahnung wie gelähmt anstarrten. Er schaute in seine Tasche und hob den Blick.
    »Das war alles für die Wellington Row«, sagte er.
    Ethel verlor fast den Boden unter den Füßen. Billy lebte.
    Sie schaute ihre Eltern an. Mam weinte. Gramper versuchte, seine Pfeife wieder anzuzünden, aber seine Hände zitterten zu sehr.
    Dah nahm nicht den Blick von ihr. Den Ausdruck in seinem Gesicht vermochte Ethel nicht zu deuten. Dah war tief bewegt, doch sie wusste nicht zu sagen, wovon.
    Er machte einen einzigen Schritt auf sie zu.
    Viel war es nicht, aber es genügte. Ethel hob Lloyd hoch und rannte auf Dah zu.
    Er schloss beide in die Arme. »Billy lebt«, sagte er. »Und du auch.«
    »Ach, Dah«, schluchzte Ethel. »Es tut mir so leid, dass ich dich enttäuscht habe.«
    »Denk nicht mehr dran«, sagte er und klopfte ihr auf den Rücken, wie er es immer getan hatte, wenn sie sich als kleines Mädchen die Knie aufgeschlagen hatte. »Ist schon gut. Es wird alles wieder gut.«

    Ein interkonfessioneller Gottesdienst war bei den Christen von Aberowen ein seltenes Ereignis, so viel wusste Ethel. Unter Walisern wurden dogmatische Differenzen niemals als zweitrangig betrachtet. Die eine Gruppe lehnte das Weihnachtsfest ab, weil die Bibel keinen Anhaltspunkt liefere, wann die Geburt Jesu sich ereignet hatte. Andere untersagten die Teilnahme an den Wahlen, weil der Apostel Paulus geschrieben hat: »Unser Wandel aber ist im Himmel.« Und keiner von ihnen schien gerne an der Seite von Menschen beten zu wollen, die anderer Ansicht waren.
    Nach dem Telegramm-Mittwoch jedoch schienen solche Unterschiede sich wenigstens für kurze Zeit verwischt zu haben.
    Der anglikanische Pfarrer von Aberowen, Reverend Thomas Ellis-Thomas, schlug einen gemeinsamen Trauergottesdienst vor. Zweihundertelf Telegramme waren an jenem Mittwoch ausgeliefert worden, und da die Schlacht noch immer im Gange war, trafen jeden Tag eine oder zwei neue traurige Mitteilungen ein. In jeder Straße in der Stadt hatte jemand einen geliebten Menschen verloren, und in den dicht an dicht stehenden Häusern der

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