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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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sie ja ein, aber das traf auch auf die meisten anderen Menschen zu. Doch Gott vergab ihnen ihre Sünden. Weshalb also maßte Dah sich an, so eisern bei seinem Urteil zu bleiben? Es machte Ethel wütend und traurig zugleich.
    Der Junge von der Post kam auf seinem Pony die Straße herauf und band es am Aborthäuschen fest. Er hieß Geraint Jones und war noch nicht im wehrfähigen Alter. Seine Arbeit bestand darin, Pakete und Telegramme auszuliefern, aber heute schien er keine Pakete dabeizuhaben. Ethel fröstelte plötzlich, als hätte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben. Auf der Wellington Row waren Telegramme selten und bedeuteten zumeist schlechte Nachrichten.
    Geraint ging die Steigung hinunter und entfernte sich von Ethel. Ihr fiel ein Stein vom Herzen: Das Telegramm war nicht für ihre Familie.
    Ihre Gedanken schweiften zu einem Brief von Lady Maud. Ethel und Maud hatten gemeinsam mit anderen Frauen eine Kampagne begonnen mit dem Ziel, dass bei jeder Diskussion über eine Wahlrechtsreform für Soldaten auch das Frauenstimmrecht zur Sprache kam. Mittlerweile hatten sie genügend öffentliche Aufmerksamkeit erregt, dass Premierminister Asquith dieser Frage nicht mehr ausweichen konnte.
    Maud hatte Ethel geschrieben, Asquith sei ihrem Vorstoß ausgewichen, indem er das Problem an einen Ausschuss delegiert habe. Aber das sei schon in Ordnung, schrieb Maud, denn statt theatralischer Reden im Unterhaus gäbe es nun Debatten im kleinen Kreis. Vielleicht siegte ja der gesunde Menschenverstand. Im Augenblick versuchte Maud herauszufinden, mit welchen Leuten Asquith den Ausschuss besetzte.
    Ein paar Türen weiter kam Gramper aus dem Haus der Williams, setzte sich auf das niedrige Fensterbrett und zündete seine erste Pfeife des Tages an. Er entdeckte Ethel und winkte lächelnd.
    Auf der anderen Seite begann Minnie Ponti, die Mutter von Joey und Johnny, einen Teppich auszuklopfen. Der aufwirbelnde Staub brachte sie zum Husten.
    Mrs. Griffiths kam mit einer Schaufel Asche aus dem Küchenherd auf die Straße und schüttete sie in ein Schlagloch.
    Ethel fragte sie: »Kann ich mich nützlich machen? Ich könnte für dich zum Co-op gehen, wenn du was brauchst.« Sie hatte bereits die Betten gemacht und das Frühstücksgeschirr abgewaschen.
    »Ja, gerne«, sagte Mrs. Griffiths. »Ich mach dir eine Liste.« Keuchend lehnte sie sich an die Hauswand. Sie war eine schwere Frau, und jede Bewegung strengte sie an.
    Ethel sah, dass am unteren Ende der Straße die Leute zusammenliefen. Stimmen wurden erhoben. Plötzlich gellte ein Schrei. Ethel und Mrs. Griffiths tauschten einen Blick. Dann nahm Ethel ihren Sohn auf, und beide Frauen eilten die Straße hinunter, um zu sehen, was auf der anderen Seite des Aborthäuschens vor sich ging.
    Als Erstes sah Ethel eine kleine Gruppe Frauen, die sich um Mrs. Pritchard scharten. Mrs. Pritchard jammerte aus vollem Halse. Die anderen Frauen versuchten sie zu beruhigen. Aber sie war nicht die Einzige: Stumpy Pugh, ein ehemaliger Kohlehauer, der bei einem Bergbruch ein Bein verloren hatte, saß mitten auf der Straße, als hätte man ihn niedergeschlagen. Zwei Nachbarn standen links und rechts von ihm. Auf der anderen Seite der Straße stand Mrs. John Jones the Shop schluchzend in der Tür, ein Blatt Papier in der Hand.
    Ethel sah Geraint, den Postjungen, wie er kreidebleich und den Tränen nahe die Straße überquerte und an eine andere Tür klopfte.
    »Telegramme vom Kriegsministerium«, sagte Mrs. Griffiths. »O Herr, steh uns bei.«
    »Die Schlacht an der Somme«, flüsterte Ethel. »Die Aberowen Pals sind dabei.«
    »Alun Pritchard muss tot sein, und Clive Pugh, und Prophet Jones … er war Sergeant. Seine Eltern waren so stolz auf ihn …«
    »Die arme Mrs. Jones the Shop. Ihr anderer Sohn ist bei der Grubenexplosion unter den Berg gekommen.«
    »O Herr, lass meinen Tommy gesund sein«, betete Mrs. Griffiths, obwohl ihr Mann ein berüchtigter Atheist war. »O Herr, verschone Tommy.«
    »Und Billy«, sagte Ethel und fügte hinzu, nur in Lloyds winziges Öhrchen geflüstert: »Und deinen Daddy.«
    Geraint trug einen Segeltuchsack über der Schulter. Ethel fragte sich voller Angst, wie viele Telegramme noch darin sein mochten. Der Junge ging kreuz und quer die Straße entlang, von einer Hausnummer zur nächsten, ein Todesengel mit Briefträgermütze.
    Als er am Aborthäuschen vorbeiging und zur oberen Hälfte der Straße gelangte, standen alle auf den Gehsteigen. Die Frauen hatten ihre Arbeit

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