Sturz der Titanen
Bergmannssiedlung traf man alle paar Meter auf eine trauernde Familie.
Die Methodisten, Baptisten und Katholiken stimmten dem Vorschlag des anglikanischen Pfarrers zu. Die kleineren Gemeinschaften hätten es wahrscheinlich vorgezogen, unter sich zu bleiben: die Full Gospel Baptists, die Zeugen Jehovas, die Evangelikalen der Wiederkunft Christi und die Bethesda-Kapelle. Ethel merkte ihrem Vater an, dass er mit sich rang. Aber niemand wollte versäumen, was der größte Gottesdienst in der Geschichte der Stadt zu werden versprach, und am Ende nahmen alle daran teil. Aberowen hatte keine Synagoge, aber unter den Gefallenen war der junge Jonathan Goldman, und so erschienen auch die Handvoll praktizierender Juden in der Stadt, obwohl man ihrem Glauben in keiner Weise entgegenkam.
Der Gottesdienst wurde am Sonntagnachmittag um halb drei im Stadtpark gehalten, den alle »The Reck« nannten – die Kurzform für Recreation Ground, Freizeitgelände. Der Stadtrat hatte ein behelfsmäßiges Podest errichten lassen, auf dem die Geistlichen stehen konnten. Der Tag war schön und sonnig, und so kamen dreitausend Besucher.
Ethel ließ den Blick über die Menge schweifen. Perceval Jones war mit Zylinder erschienen. Er war nicht nur Bürgermeister von Aberowen, sondern auch Parlamentsabgeordneter der Stadt. Außerdem war er Bataillonskommandeur ehrenhalber der Aberowen Pals und hatte die Rekrutierungskampagne geleitet. Mehrere andere Direktoren von Celtic Minerals waren bei ihm – als hätten sie irgendeinen Anspruch auf den Heldenmut der Gefallenen, dachte Ethel verärgert. Auch Maldwyn »Gone-to-Merthyr« Morgan erschien mit seiner Frau; aber die beiden hatten jedes Recht darauf, hier zu sein, denn ihr Sohn Roland war ebenfalls an der Somme geblieben.
Dann entdeckte sie Fitz.
Zuerst erkannte sie ihn nicht. Sie sah Fürstin Bea in schwarzem Kleid und mit Hut, gefolgt von einem Kindermädchen, das den kleinen Viscount Aberowen trug, einen Jungen im gleichen Alter wie Lloyd. Bea wurde von einem Mann auf Krücken begleitet, der ein Bein in Gips hatte und einen Verband um den Kopf trug, der das linke Auge bedeckte. Ethel musste lange hinsehen, bis sie erkannte, dass sie Fitz vor sich hatte. Sie stieß einen unterdrückten Schrei aus.
»Was ist?«, fragte Mam.
»Sieh nur, der Earl!«
»Ist er das? Meine Güte, der arme Mann.«
Ethel starrte ihn an. Sie liebte ihn nicht mehr; er war zu grausam zu ihr gewesen. Aber gleichgültig war er ihr auch nicht. Sie erinnerte sich nur zu gut daran, wie sie das Gesicht unter dem Verband mit Küssen bedeckt und den kräftigen, nun so schrecklich geschundenen Leib liebkost hatte. Fitz war eitel – die verzeihlichste seiner Schwächen –, und Ethel wusste, dass ihn das Entsetzen bei jedem Blick in den Spiegel mehr schmerzte als seine Wunden.
»Ich möchte wissen, warum er nicht zu Hause geblieben ist«, sagte Mam. »Die Leute hätten doch Verständnis dafür gehabt.«
Ethel schüttelte den Kopf. »Er ist zu stolz. Er hat die Männer in den Tod geführt. Er musste hierherkommen.«
»Du kennst ihn gut«, sagte Mam mit einem Ausdruck, bei dem Ethel sich fragte, ob sie die Wahrheit ahnte. »Er will bestimmt, dass die Leute sehen, dass auch solche wie er gelitten haben. Ich glaube, das ist ihm wichtig.«
Ethel nickte. Mam hatte recht. Fitz war überheblich und neigte zur Willkür; zugleich verlangte es ihn nach der Achtung der kleinen Leute.
Dai Chops, der Sohn des Metzgers, kam zu ihnen. »Schön, dass du wieder in Aberowen bist, Ethel«, sagte er.
Er war ein kleiner Mann in einem ordentlichen Anzug. »Wie geht es dir, Dai?«, fragte Ethel.
»Sehr gut, danke. Morgen läuft der neue Charlie-Chaplin-Film an. Magst du Chaplin?«
»Ich habe keine Zeit fürs Kino.«
»Warum lässt du den Kleinen morgen Abend nicht bei deiner Mam und kommst mit?«
Dai hatte im Palace Cinema in Cardiff einmal die Hand unter Ethels Rock geschoben. Das war fünf Jahre her, aber sie sah ihm an, dass er es nicht vergessen hatte. »Nein, danke, Dai«, sagte sie bestimmt.
Doch er gab sich noch nicht geschlagen. »Noch arbeite ich unter Tage, aber ich übernehme das Geschäft, wenn Dah sich aufs Altenteil begibt.«
»Schön, dass es dir gut geht.«
»Viele Männer würden ein Mädchen mit einem Kind nicht mal anschauen«, sagte er. »Aber ich bin anders.«
Das war ziemlich herablassend, doch Ethel beschloss, nicht beleidigt zu sein. »Auf Wiedersehen, Dai. Nett von dir, dass du mich gefragt hast.«
Er lächelte
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