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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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ersten Worte sprechen können. Grigori hätte dem Kleinen zu gerne beigebracht, »Onkel Grischka« zu sagen.
    Oft dachte er an die Nacht, als Katherina in sein Bett gekommen war. In seinen Tagträumen änderte er manchmal den Lauf der Dinge. Dann stieß er sie nicht mehr von sich weg, sondern nahm sie in die Arme, küsste ihren weichen Mund und machte Liebe mit ihr. Aber er war sich stets bewusst, dass ihr Herz im wirklichen Leben seinem Bruder gehörte.
    Grigori hatte nichts von Lew gehört, obwohl dieser bereits zwei Jahre fort war. Ob Lew in Amerika irgendetwas Schlimmes widerfahren war? Lews Fehler und Schwächen hatten ihn mehr als einmal in Schwierigkeiten gebracht, auch wenn er stets zu wissen schien, wie er sich wieder daraus befreite. Lews Leichtsinn war ein Produkt seiner Erziehung. Er hatte von der Hand in den Mund gelebt und nie Disziplin gelernt, denn Grigori war ein armseliger Vaterersatz gewesen. Er wünschte sich, er hätte seine Sache besser gemacht, aber er war damals ja selbst noch ein Kind gewesen.
    Das Ende vom Lied war jedenfalls, dass Katherina und ihr Söhnchen niemanden hatten, der sich um sie kümmerte – bis auf Grigori. Deshalb war er fest entschlossen, am Leben zu bleiben, trotz der erschreckenden Unfähigkeit der militärischen Führung und der chaotischen Zustände in der russischen Armee. Eines Tages wollte Grigori zu Katherina und Wladimir zurück.
    Den Befehl über die russische Südwestfront hatte General Brussilow, der im Gegensatz zu vielen anderen Generälen Berufssoldat war; die anderen waren zumeist Höflinge. Unter Brussilows Befehl hatten die Russen im Juni einige Geländegewinne gemacht und die Österreicher vor sich hergetrieben. Grigori und seine Männer kämpften hart, wenn die Befehle auch nur ansatzweise Sinn ergaben. Ansonsten richteten sie ihre ganze Energie darauf, aus der Schusslinie zu bleiben – eine Kunst, auf die Grigori sich inzwischen ziemlich gut verstand und die ihm die Loyalität seines Zuges eingebracht hatte.
    Im Juli verlangsamte sich der russische Vorstoß, wie jedes Mal aufgrund von Nachschubmangel. Doch nun waren Verstärkungen eingetroffen, darunter mehrere Garderegimenter, denen Elitesoldaten angehörten, die körperlich größten und härtesten russischen Kämpfer. Anders als die normalen Armeesoldaten trugen sie schmucke dunkelgrüne Uniformen und neue Stiefel. Aber sie hatten einen miserablen Befehlshaber, General Besobrasow, ein weiterer Höfling. Grigori hatte das untrügliche Gefühl, dass Besobrasow es niemals schaffen würde, Kowel einzunehmen, egal wie groß und stark seine Soldaten sein mochten.
    Bei Sonnenaufgang brachte Major Azow die Befehle. Er war ein großer, schwerer Mann in eng sitzender Uniform, und meist waren seine Augen so früh am Morgen blutunterlaufen. Leutnant Kirilow begleitete ihn. Der Leutnant rief die Sergeanten zu sich, und Azow befahl ihnen, den Fluss zu überqueren und durch den Sumpf nach Westen zu marschieren. Die Österreicher hatten Stellungen im Sumpf, hatten sich aber nicht eingegraben, denn der Boden war zu schlammig.
    Grigori sah jetzt schon die drohende Katastrophe: Die Österreicher, die ihre Stellungen wahrscheinlich mit Bedacht ausgewählt hatten, würden ihnen in sicherer Deckung auflauern. Die Russen hingegen würden sich als kompakte Menschenmasse auf den Sumpfpfaden vorwärtsbewegen und auf dem schlammigen Untergrund nicht schnell genug vorankommen. Der Feind würde sie massakrieren.
    Außerdem ging ihnen die Munition aus.
    »Euer Gnaden«, sagte Grigori, »wir brauchen Munition.«
    Für einen Mann seiner Körperfülle bewegte Azow sich erstaunlich schnell. Ohne Vorwarnung schmetterte er Grigori die Faust auf den Mund. Brennender Schmerz raste durch Grigoris Lippen, und er taumelte nach hinten. »Das sollte dich eine Zeit lang zum Schweigen bringen«, sagte Azow. »Ihr werdet Munition bekommen, wenn eure Offiziere sagen, dass ihr sie braucht.« Er drehte sich zu den anderen um. »Bildet eine Schützenlinie! Rückt vor, sobald ihr das Signal hört!«
    Grigori rappelte sich auf. Er schmeckte Blut. Vorsichtig betastete er sein Gesicht und stellte fest, dass er einen Zahn verloren hatte. Er verfluchte seine Unvorsichtigkeit. Er hätte es besser wissen müssen. Offiziere schlugen bei der geringsten Provokation zu. Grigori konnte von Glück sagen, dass Azow kein Gewehr dabeigehabt hatte, sonst hätte er den Kolben ins Gesicht bekommen.
    Grigori rief seinen Zug zusammen und ließ die Männer sich in Reihe

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