Sturz der Titanen
er mal Urlaub kriegt.«
»Er ist erst fünf Monate weg.«
Mildred setzte die Teekanne ab. »Darf ich dich was fragen, Ethel?«
»Sicher.«
»Ich überlege, mich selbstständig zu machen … als Näherin, meine ich.«
Ethel war überrascht. Mildred war mittlerweile Vorarbeiterin in Mannie Litovs Manufaktur, sodass sie mehr verdiente als früher.
Mildred fuhr fort: »Ich habe eine Freundin, die mir Aufträge vermitteln kann. Ich müsste Hüte verzieren … Schleier anbringen, Bänder, Federn, Perlen und so. Das erfordert Können und wird viel besser bezahlt, als Uniformen zusammenzunähen.«
»Hört sich großartig an.«
»Es ist nur so, dass ich zu Hause arbeiten müsste, anfangs zumindest. Auf lange Sicht möchte ich gerne andere Mädchen beschäftigen und eine kleine Werkstatt haben.«
»Du planst wirklich voraus!«
»Das muss man auch. Wenn der Krieg vorbei ist, will keiner mehr Uniformen haben.«
»Stimmt.«
»Also hast du nichts dagegen, wenn ich die Zimmer oben als Werkstatt benutze? Wenigstens eine Zeit lang?«
»Natürlich nicht. Ich wünsche dir viel Glück!«
»Danke.« Impulsiv küsste sie Ethel auf die Wange, nahm die Teekanne und ging hinaus.
Lloyd rieb sich gähnend die Augen. Ethel hob ihn auf und brachte ihn im vorderen Zimmer zu Bett. Eine Zeit lang betrachtete sie ihn liebevoll, während er einschlief. Wie jedes Mal rührte sie die Hilflosigkeit des Jungen. Wenn du groß bist, Lloyd, ist die Welt besser geworden, versprach sie ihm im Stillen. Dafür werden wir sorgen.
Sie kehrte in die Küche zurück und versuchte Bernie aus seiner trüben Laune zu holen.
»Es sollte mehr Kinderbücher geben«, sagte sie.
Er nickte. »Ich fänd’s gut, wenn jede Bibliothek eine kleine Ecke mit Kinderbüchern hätte.« Er redete, ohne von der Zeitung aufzublicken.
»Wenn ihr Bibliothekare das einrichtet, ermutigt es die Verlage vielleicht, mehr solche Bücher herauszubringen.«
»Das hoffe ich.«
Ethel legte Kohle nach und schenkte ihnen beiden Kakao ein. Dass Bernie sich so zurückhaltend gab, war ungewöhnlich. Normalerweise waren diese Abende mit ihm sehr gemütlich. Sie waren zwei Außenseiter, eine Waliserin und ein Jude, obwohl es London weder an Walisern noch an Juden mangelte. Was immer der Grund war – in den beiden Jahren, die Ethel nun in London lebte, war Bernie ihr ein enger Freund geworden, ähnlich wie Mildred und Maud.
Sie ahnte, was in ihm vorging. Am Vorabend hatte ein aufgeweckter junger Gastredner von der Fabian-Gesellschaft vor der Ortsgruppe der Unabhängigen Arbeiterpartei zum Thema »Sozialismus nach dem Krieg« gesprochen. Ethel hatte mit dem Redner diskutiert, und er hatte offenbar großes Gefallen an ihr gefunden. Nach der Versammlung hatte er offen mit ihr geflirtet, obwohl jeder wusste, dass er verheiratet war. Ethel hatte seine Aufmerksamkeit genossen, ohne die Sache ernst zu nehmen. Aber vielleicht war Bernie eifersüchtig.
Ethel beschloss, ihm seine Ruhe zu lassen, und öffnete am Küchentisch einen großen Umschlag voller Briefe, die Soldaten an der Front geschrieben hatte. Leserinnen des Soldier’s Wife schickten die Briefe ihrer Männer an die Zeitung, die für jeden Abdruck einen Shilling zahlte. Die Briefe gaben ein genaueres Bild vom Leben an der Front wider als alles, was in der regulären Presse stand. Die meisten Artikel im Soldier’s Wife stammten von Maud, aber die Sache mit den Briefen war Ethels Idee gewesen, und sie war für die Seite zuständig, die zur beliebtesten Rubrik des Blattes geworden war.
Man hatte ihr einen besser bezahlten Job als Vollzeitorganisatorin bei der Nationalen Gewerkschaft der Kleidermacher angeboten, aber Ethel hatte abgelehnt. Sie wollte bei Maud bleiben und weiter politisch arbeiten.
Sie las ein halbes Dutzend Briefe; dann seufzte sie und blickte Bernie an. »Man sollte eigentlich meinen, dass die Leute sich gegen den Krieg auflehnen müssten.«
»Aber sie tun es nicht«, erwiderte er. »Sieh dir nur die Wahlergebnisse an.«
Im Monat zuvor hatte es in Ayrshire eine Neuwahl gegeben, da der Parlamentsabgeordnete der Grafschaft verstorben war. Der konservative Kandidat, Lieutenant General Hunter-Weston, der an der Somme gekämpft hatte, war gegen Reverend Chalmers angetreten, ein Mitglied der Friedenspartei. Der Heeresoffizier hatte mit überwältigender Mehrheit gewonnen: 7149 gegen 1300 Stimmen.
»Es liegt an den Zeitungen«, sagte Ethel erzürnt. »Was richtet unser kleines Blatt schon gegen die Propaganda der
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