Sturz der Titanen
mehr geliebt als ich.«
Da hat er recht, dachte sie traurig. Begehrt hatten sie viele Männer, und einer hatte sie verführt, aber keiner hatte die geduldige Ergebenheit Bernies gezeigt. Wenn sie ihn heiratete, konnte sie sicher sein, dass er immer für sie da wäre. Und irgendwo in ihrem Inneren sehnte sie sich danach.
Als Bernie ihr Zögern spürte, sagte er: »Heirate mich, Ethel. Ich liebe dich. Ich werde mein Leben darauf verwenden, dich glücklich zu machen. Mehr wünsche ich mir nicht.«
Brauchte sie überhaupt einen Mann? Sie war nicht unglücklich. Lloyd machte ihr ständig Freude mit seinen kindlichen Späßen und seiner grenzenlosen Neugier. Er genügte ihr.
Bernie sagte: »Der kleine Lloyd braucht einen Vater.«
Ethel überkam ein Anflug von Schuldgefühl. Bernie spielte diese Rolle jetzt schon zeitweise. Sollte sie Bernie um Lloyds willen heiraten? Noch war es nicht zu spät, dem Jungen beizubringen, Bernie »Daddy« zu nennen.
Das aber würde bedeuten, die winzige Hoffnung aufzugeben, noch einmal die überwältigende Leidenschaft zu finden, die sie mit Fitz erlebt hatte. Noch immer loderte Verlangen in ihr auf, wenn sie nur daran dachte. Aber was habe ich aus dieser Affäre eigentlich gewonnen, fragte sie sich, als sie versuchte, trotz ihrer Empfindungen objektiv zu denken. Ich bin von Fitz enttäuscht und von meiner Familie verstoßen worden und musste in eine andere Stadt gehen. Ich will das nicht noch einmal.
Sosehr sie mit sich rang, sie konnte sich nicht überwinden, Bernies Antrag anzunehmen. »Lass mich darüber nachdenken«, bat sie.
Er strahlte. Für ihn war es eine positivere Antwort, als er zu hoffen gewagt hatte. »Denk so lange nach, wie du willst«, sagte er. »Ich warte auf dich.«
Sie brachte ihn zur Tür und öffnete. »Gute Nacht, Bernie.«
»Gute Nacht, Ethel.« Er beugte sich vor, und sie hielt ihm die Wange zum Kuss hin. Seine Lippen verharrten einen Augenblick auf ihrer Haut. Sie wich augenblicklich zurück. Er fasste sie beim Handgelenk. »Ethel …«
»Schlaf gut, Bernie«, sagte sie.
Er zögerte, dann nickte er. »Du auch«, sagte er und ging.
In der Wahlnacht im November 1916 hielt Gus Dewar seine politische Karriere für beendet.
Er war im Weißen Haus, nahm Anrufe entgegen und leitete Nachrichten an Präsident Wilson weiter, der mit seiner zweiten Frau Edith in Shadow Lawn weilte, dem neuen Sommersitz des Präsidenten in New Jersey. Jeden Tag wurden per Post Briefe nach Shadow Lawn geschickt, doch es kam vor, dass der Präsident die Information schneller benötigte.
Gegen neun Uhr an diesem Abend war klar, dass der republikanische Kandidat, ein Richter am Obersten Gerichtshof mit Namen Charles Evans Hughes, vier Staaten, bei denen das Ergebnis auf der Kippe stand, für sich gewonnen hatte: New York, Indiana, Connecticut und New Jersey.
Dennoch erkannte Gus die Wahrheit erst, als ein Bote ihm die Morgenausgaben der New Yorker Zeitungen brachte und er die Schlagzeilen sah:
HUGHES auf dem Weg zur PRÄSIDENTschaft
Gus war schockiert. Er hatte fest daran geglaubt, dass Woodrow Wilson siegen würde. Schließlich hatten die Wähler nicht vergessen, wie geschickt er die Lusitania-Krise gehandhabt hatte. Es war ihm gelungen, den Deutschen gegenüber hart zu sein und dennoch neutral zu bleiben. Der Wahlslogan für Wilsons Kampagne war: »Er hielt uns vom Krieg fern.«
Hughes hatte Wilson den Vorwurf gemacht, Amerika nicht auf den Krieg vorbereitet zu haben, doch dieser Schuss war nach hinten losgegangen. Nach der brutalen Niederschlagung des Osteraufstands in Dublin durch die Briten waren die Amerikaner entschlossener denn je, neutral zu bleiben. Die Briten behandelten die Iren nicht besser als die Deutschen die Belgier. Warum sollte Amerika sich da auf ihre Seite schlagen?
Nachdem Gus die Zeitungen gelesen hatte, lockerte er seine Krawatte und setzte sich auf die Couch im Arbeitszimmer neben dem Oval Office. Die Aussicht, das Weiße Haus verlassen zu müssen, beunruhigte ihn. Für Wilson zu arbeiten war zu einer festen Größe in seinem Leben geworden. Sein Liebesleben war eine einzige Katastrophe, aber wenigstens wusste er, dass er für den Präsidenten der Vereinigten Staaten noch einen Wert hatte.
Gus’ Sorge war jedoch nicht nur von Selbstsucht geprägt. Wilson war entschlossen, eine internationale Ordnung zu schaffen, in der Kriege vermieden werden konnten. So wie in den USA Nachbarschaftsstreitigkeiten nicht mehr mit Sechsschüssern geklärt wurden, so
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