Sturz der Titanen
Bis gerade hatte er offenbar auf einer leeren Dose herumgetrommelt. Nun starrte er Grigori erschrocken an; dann begann er zu weinen.
Katherina hob ihn hoch. »Nicht weinen, Walodja«, sagte sie und wiegte ihn auf den Armen. »Du brauchst keine Angst zu haben.« Der Kleine verstummte, und Katherina sagte: »Das ist dein Papa.«
Grigori wusste nicht, ob es ihm gefiel, wenn Wladimir ihn als Vater sah, aber jetzt war nicht die Zeit, darüber zu reden. Er trat ins Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Dann schloss er Katherina und den Jungen in die Arme und küsste erst das Kind, dann Katherina auf die Stirn, ehe er einen Schritt zurücktrat und die beiden betrachtete. Katherina war nicht mehr das junge Mädchen mit dem frischen Gesicht, das er vor den Annäherungsversuchen des Reviervorstehers Pinsky gerettet hatte. Sie war dünner geworden und sah müde und abgespannt aus.
Seltsamerweise sah das Kind Lew kein bisschen ähnlich. Es war nicht so hübsch wie Lew, noch hatte es sein gewinnendes Lächeln. Stattdessen besaß Walodja die blauen Augen und den intensiven Blick, den Grigori jedes Mal sah, wenn er in den Spiegel schaute.
Grigori lächelte. »Er ist wunderschön.«
»Was ist mit deinem Ohr passiert?«, fragte Katherina.
Grigori berührte das Narbengewebe, das von seinem rechten Ohr übrig war. »Das meiste davon habe ich in Ostpreußen verloren.«
»Und dein Zahn?«
»Ich hatte Ärger mit einem Offizier, aber der ist jetzt tot. Zu guter Letzt war ich der Bessere.«
»Du bist nicht mehr so hübsch wie damals.«
Hübsch? Katherina hatte ihn früher nie als hübsch bezeichnet. »Ach, das sind nur kleine Wunden. Ich kann von Glück sagen, dass ich noch lebe.«
Grigori schaute sich in seinem alten Zimmer um. Vieles hatte sich verändert, auch wenn es meist nur kleine Dinge waren. Auf dem Kaminsims, wo Grigori und Lew ihre Pfeifen, den Tabak und die Streichhölzer aufbewahrt hatten, standen nun eine Blumenvase, eine Puppe und eine Farbpostkarte von Mary Pickford. Vor dem Fenster hing ein Vorhang. Er war zwar nur aus Stofffetzen genäht, aber Grigori hatte nie einen Vorhang besessen. Auch fiel ihm der frische Geruch auf. Früher hatte die Luft von Tabakrauch, gekochtem Kohl und Männerschweiß gestanden, nun roch alles sauber.
Katherina wischte die verschüttete Milch auf. »Ich habe Walodjas Abendessen verschüttet«, sagte sie. »Was soll ich ihm jetzt zu essen geben? Meine Brüste haben keine Milch mehr.«
»Hier …« Grigori holte eine Wurst, einen Kohlkopf und ein Glas Marmelade aus seinem Sack. »Aus der Kasernenküche.«
Katherina öffnete das Marmeladenglas und fütterte Wladimir mit einem Löffel. Er aß und fragte: »Mehr?«
Katherina aß selbst einen Löffel und gab dann wieder dem Kind etwas. »Das ist wie im Märchen«, sagte sie. »So gutes Essen! Jetzt muss ich nicht wieder vor der Bäckerei schlafen.«
Grigori furchte die Stirn. »Was meinst du damit?«
»Es gibt nie genug Brot. Sobald die Bäckerei aufmacht, ist schon alles verkauft. Man bekommt nur Brot, wenn man sich früh genug in die Schlange stellt. Wenn du nicht vor Mitternacht da bist, hast du am Morgen keine Chance.«
»Mein Gott.« Grigori entsetzte die Vorstellung, dass Katherina auf der Straße schlafen musste. »Was ist mit Walodja?«
»Eines der anderen Mädchen passt auf ihn auf, wenn ich weg bin. Aber mittlerweile schläft er sowieso die ganze Nacht.«
Kein Wunder, dass die Frau des Schuhhändlers sich mir für einen Laib Brot angeboten hat, überlegte Grigori. Vermutlich hatte er sogar zu viel bezahlt. »Wie kommst du zurecht?«
»In der Fabrik bekomme ich zwölf Rubel pro Woche.«
Grigori war verwirrt. »Aber das ist ja das Doppelte von dem, was du verdient hast, als ich gegangen bin!«
»Damals lag die Miete für dieses Zimmer bei vier Rubel, jetzt sind es acht. Damit bleiben mir vier Rubel für alles andere. Und ein Sack Kartoffeln hat damals einen Rubel gekostet, jetzt zahlt man sieben Rubel.«
»Sieben Rubel für einen Sack Kartoffeln!« Grigori war entsetzt. »Wie sollen die Leute da noch leben?«
»Alle müssen hungern. Die Kinder werden krank und sterben. Die Alten werden immer schwächer. Es wird jeden Tag schlimmer, und niemand tut etwas.«
Grigori war bestürzt. Als er auf den Schlachtfeldern leiden musste, hatte er sich mit dem Gedanken getröstet, dass es Katherina und dem Kind besser ging als ihm, dass sie eine warme Unterkunft und genug Geld hatten, um sich ernähren zu können. Aber das war ein
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