Sturz der Titanen
schrecklicher Irrtum gewesen. Es machte ihn wütend, dass Katherina ihren kleinen Sohn hier lassen musste, während sie draußen auf der Straße schlief, um ein Stück Brot zu ergattern.
Sie setzten sich an den Tisch, und Grigori schnitt die Wurst mit seinem Messer. »Eine Tasse Tee wäre jetzt nicht schlecht«, sagte er.
Katherina lächelte. »Ich habe seit einem Jahr keinen Tee mehr gehabt.«
»Ich bringe dir welchen aus der Kaserne mit.«
Katherina aß die Wurst. Grigori bemerkte, dass es ihr schwerfiel, nicht zu schlingen. Er hob sich den kleinen Wladimir auf den Schoß und fütterte ihn mit Marmelade. Ein Gefühl der Zufriedenheit überkam ihn. Wie oft hatte er sich eine solche Szene an der Front vorgestellt! Das gemütliche Zimmer, das Essen, der kleine Junge und Katherina. Nun war dieser Traum wahr geworden. »Das ist doch gar nicht mal so schwer«, dachte er laut.
»Was meinst du?«
»Du und ich, wir sind gesund und stark und können hart arbeiten. Und ich bin mit dem zufrieden, was ich jetzt habe: ein Zimmer, etwas zu essen und am Ende des Tages ein bisschen Ruhe. So sollte es jeden Tag für uns sein, wenn der Krieg zu Ende ist.«
»Aber die Lage ist schlecht«, sagte Katherina. »Wir wurden von den Helfern der Deutschen bei Hofe verraten.«
»Wie das?«
»Du weißt doch, dass die Zariza Deutsche ist.«
»Ja.« Die Frau des Zaren war als Prinzessin Alix von Hessen und bei Rhein im Deutschen Reich geboren worden.
»Und Stürmer ist offensichtlich auch ein Deutscher.«
Grigori zuckte mit den Schultern. Soweit er wusste, war Ministerpräsident Stürmer in Russland geboren. Viele Russen hatten deutsche Namen, und umgekehrt. Seit Jahrhunderten lebten die beiden Volksgruppen nun schon nebeneinander und vermischten sich.
»Und Rasputin ist ebenfalls prodeutsch.«
»Wirklich?« Grigori hatte immer geglaubt, der verrückte Mönch sei lediglich daran interessiert, die Damen bei Hofe zu verführen und so viel Einfluss und Macht zu erlangen, wie er nur konnte.
»Sie stecken alle unter einer Decke. Stürmer wurde von den Deutschen dafür bezahlt, die Bauern auszuhungern. Der Zar telefoniert mit seinem Vetter, Kaiser Wilhelm, und verrät ihm, wo unsere Truppen als Nächstes angreifen werden. Rasputin will, dass wir kapitulieren. Und die Zariza und ihre Hofdame Anna Wyrobowa schlafen beide gleichzeitig mit Rasputin.«
Grigori kannte die meisten dieser Gerüchte, glaubte aber nicht an eine prodeutsche Einstellung des Zarenhofes. Der Zar und sein Umfeld waren bloß dumm und unfähig. Aber viele Soldaten glaubten diese Geschichten, und wenn man Katherina zuhörte, schien dies auch für viele Zivilisten zu gelten. Umso wichtiger war die Aufgabe der Bolschewiken, die wahren Gründe bekannt zu machen, warum Russland den Krieg verlor und die Menschen hungerten.
Aber nicht heute Nacht. Als Wladimir gähnte, stand Grigori auf, wiegte den Jungen auf den Armen und ging auf und ab, während Katherina redete. Sie erzählte ihm vom Leben in der Fabrik, von den anderen Mietern im Haus und allen Leuten, die er kannte. Reviervorsteher Pinsky war inzwischen Leutnant bei der Ochrana, der politischen Polizei; er jagte gefährliche Liberale und Demokraten. Tausende von Waisenkindern vegetierten auf den Straßen und kämpften mit Diebstahl und Prostitution gegen Hunger und Kälte. Konstantin, Grigoris bester Freund in den Putilow-Werken, war inzwischen Mitglied des Stadtsowjets der Bolschewiken. Und die einzige Familie, die immer reicher wurde, waren die Wjalows: Egal wie groß der Mangel war, sie konnten einem stets Wodka und Kaviar, Zigaretten und Schokolade besorgen.
Grigori betrachtete Katherinas breiten Mund und die vollen Lippen. Es war eine Freude, sie reden zu sehen. Sie hatte ein entschlossenes Kinn und kühne blaue Augen, doch für Grigori hatte sie immer schon verletzlich ausgesehen.
Wladimir schlief ein, von Grigoris Wiegen und Katherinas Stimme eingelullt. Vorsichtig legte Grigori den Jungen in das kleine Bett, das Katherina in einer Ecke für ihn gebaut hatte. Es war bloß ein mit Lumpen gefüllter Sack mit einer Decke, doch Wladimir kuschelte sich behaglich zusammen und steckte den Daumen in den Mund.
Eine Kirchenglocke läutete zur neunten Abendstunde. »Wann musst du wieder zurück sein?«, fragte Katherina.
»Um zehn«, antwortete Grigori. »Ich sollte jetzt lieber gehen.«
»Noch nicht.« Katherina legte ihm die Arme um den Hals und küsste ihn.
Es war ein wundervoller Augenblick. Ihre Lippen waren
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