Sturz der Titanen
süß und weich. Kurz schloss Grigori die Augen und atmete den Duft ihrer Haut ein. Dann löste er sich von ihr. »Es wäre nicht richtig«, sagte er.
»Sei nicht dumm.«
»Du liebst Lew.«
Sie schaute ihm in die Augen. »Ich war ein Bauernmädchen, zwanzig Jahre alt und neu in der Stadt. Mir haben Lews schicke Klamotten gefallen, seine Zigaretten, sein Wodka und seine lockere Art. Er war charmant und lustig, und er sah gut aus. Aber jetzt bin ich dreiundzwanzig, und ich habe ein Kind – und wo ist Lew?«
Grigori zuckte mit den Schultern. »Das wissen wir nicht.«
»Aber du bist hier.« Katherina streichelte Grigori über die Wange. Er wusste, dass er sie wieder hätte wegstoßen sollen, aber er konnte nicht. »Du zahlst die Miete, und du bringst meinem kleinen Sohn Essen«, sagte sie. »Glaubst du, ich weiß nicht, was für eine Närrin ich wäre, würde ich Lew lieben und nicht dich? Ist dir nicht klar, dass ich es inzwischen besser weiß? Kannst du nicht verstehen, dass ich gelernt habe, dich zu lieben?«
Grigori starrte sie an. Er konnte nicht glauben, was er da hörte.
Ihre blauen Augen schauten ihn verführerisch an. »Ja, es stimmt«, sagte sie. »Ich liebe dich.«
Grigori schloss die Augen, nahm Katherina in die Arme und ergab sich seiner Lust.
Kapitel 20
November bis Dezember 1916
Ethel Williams las beklommen die Gefallenenliste in der Zeitung. Dort standen mehrere Williams, aber kein Corporal William Williams von den Welsh Rifles. Mit einem stillen Dankgebet faltete sie die Zeitung zusammen, reichte sie Bernie Leckwith und setzte den Kessel für den Kakao auf.
Dass Billy noch lebte, konnte sie nicht mit Sicherheit sagen. Vielleicht war er in den letzten Tagen oder Stunden gefallen. Die Erinnerung an den schrecklichen Tag der Telegramme in Aberowen verfolgte sie. Noch immer sah sie die vor Angst und Trauer verzerrten Gesichter der Frauen vor sich – Gesichter, die für immer die Spuren der grausamen Neuigkeiten tragen würden, die sie an diesem Tag erfahren hatten. Ethel schämte sich, froh gewesen zu sein, dass Billy nicht unter den Toten war.
Und noch immer kamen Telegramme nach Aberowen. Die Schlacht an der Somme hatte nicht an jenem ersten Tag geendet. Den ganzen Juli, August, September und Oktober hindurch warf die British Army ihre jungen Soldaten ins Niemandsland, wo sie von Maschinengewehren niedergemäht wurden. Immer wieder bejubelten die Zeitungen einen Sieg; die Telegramme jedoch zeichneten ein ganz anderes Bild.
Wie an den meisten Abenden saß Bernie in Ethels Küche. Der kleine Lloyd mochte seinen »Onkel«. Meist saß er auf Bernies Schoß, und Bernie las ihm laut aus der Zeitung vor. Lloyd begriff zwar kaum, was die Wörter bedeuteten, aber es schien ihm trotzdem zu gefallen. Heute Abend jedoch war Bernie aus irgendeinem Grund unruhig und schenkte Lloyd keinerlei Beachtung.
Mildred kam mit einer Teekanne herunter. »Leihst du uns einen Löffel Tee, Ethel?«, bat sie.
»Bedien dich. Du weißt ja, wo er ist. Oder möchtest du lieber eine Tasse Kakao?«
»Nee, lass mal, von Kakao muss ich die ganze Nacht furzen. ’n Abend, Bernie, was macht die Revolution?«
Bernie sah von der Zeitung auf und lächelte. Er mochte Mildred. Jeder mochte sie. »Die Revolution verzögert sich ein bisschen«, sagte er.
Mildred löffelte Teeblätter in ihre Kanne. »Was von Billy gehört?«
»In letzter Zeit nichts«, sagte Ethel. »Und du?«
»Schon zwei Wochen nicht mehr.«
Es war jedes Mal Ethel, die morgens die Post hereinholte; deshalb wusste sie, dass Billy regelmäßig an Mildred schrieb. Ethel vermutete, dass es sich um Liebesbriefe handelte. Warum sonst sollte ein junger Mann der Mieterin seiner Schwester schreiben? Mildred erwiderte Billys Gefühle offenbar: Sie fragte regelmäßig, ob Ethel etwas Neues von ihm wisse, und gab sich dabei einen gleichgültigen Anstrich, der ihre Besorgnis aber nicht zu überdecken vermochte.
Ethel mochte Mildred, war sich aber nicht sicher, ob Billy mit seinen achtzehn Jahren die Verantwortung für eine dreiundzwanzigjährige Frau und zwei Stieftöchter übernehmen konnte. Sicher, Billy war immer schon außergewöhnlich reif und verantwortungsbewusst gewesen, und ehe der Krieg zu Ende war, konnte er leicht ein paar Jahre älter geworden sein. Wie auch immer, Ethel wollte nur eines: dass er lebend nach Hause kam. Dagegen verblasste alles andere.
Ethel sagte: »Gott sei Dank steht sein Name nicht auf der heutigen Verlustliste.«
»Ich frag mich, wann
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