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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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habe ich nicht gesagt.«
    »Aber dieses Telegramm wird das amerikanische Volk so sehr aufbringen, dass es nach Krieg verlangt. Und Wilson wird sich nicht vorwerfen lassen müssen, sein Wahlversprechen gebrochen zu haben; schließlich wurde er von der öffentlichen Meinung zur Änderung seines politischen Kurses gezwungen.«
    Rosa, erkannte Gus, war sogar ein wenig zu klug für seine Zwecke. Besorgt fragte er: »Das ist aber nicht die Story, die Sie schreiben werden, oder?«
    Sie lächelte. »Nein. Ich nehme nur nicht alles so einfach hin. Sie wissen ja, dass ich mal Anarchistin gewesen bin.«
    »Und jetzt?«
    »Jetzt bin ich Reporterin, und es gibt nur eine Art, diese Story zu schreiben.«
    Gus war erleichtert.
    Der Kellner brachte ihnen das Essen: gedünsteten Lachs für Rosa, Steak und Kartoffelbrei für ihn. Doch bevor sie ihr Essen auch nur anrührte, stand Rosa auf. »Ich muss in die Redaktion zurück.«
    Gus war überrascht. »Was ist mit Ihrem Essen?«
    »Meinen Sie das ernst?«, erwiderte sie. »Ich bekomme doch jetzt nichts mehr herunter! Ist Ihnen denn nicht klar, was Sie getan haben?«
    Gus war sich da ziemlich sicher; trotzdem erwiderte er: »Sagen Sie’s mir.«
    »Sie haben Amerika soeben in den Krieg geschickt.«
    Gus nickte. »Ich weiß. Gehen Sie, und schreiben Sie Ihre Story.«
    »He«, sagte Rosa. »Danke, dass Sie mich dafür ausgesucht haben.«
    Einen Augenblick später war sie verschwunden.

Kapitel 23
    März 1917
    In diesem Winter war es kalt in Petrograd, und überall herrschten Hunger und Knappheit. Das Thermometer vor der Kaserne des 1. Maschinengewehrregiments lag einen ganzen Monat lang bei fünfzehn Grad unter null. Die Bäcker buken nur noch Brot, keinen Kuchen und keine Plätzchen mehr, und auch das nicht mehr lange, denn das Mehl ging aus. Bewaffnete Wachen standen vor der Tür der Kasernenküche, denn viele Soldaten versuchten, sich eine Extraration zu erbetteln oder zu stehlen.
    An einem bitterkalten Tag Anfang März bekam Grigori eine Ausgangserlaubnis für den Nachmittag und beschloss, den kleinen Wladimir zu besuchen. Während Katherina auf der Arbeit war, kümmerte sich die Hauswirtin um den Jungen. Grigori zog seinen Armeemantel an und ging auf die eisigen Straßen hinaus. Auf dem Newski-Prospekt bemerkte er ein Bettelkind, ein Mädchen von ungefähr neun Jahren, das in dem frostigen Wind an einer Hausecke stand. Irgendetwas irritierte Grigori an ihr, und er runzelte die Stirn, als er an ihr vorbeiging. Augenblicke später wurde ihm klar, was ihn so sehr gestört hatte: Der Blick des Mädchens war eine einzige sexuelle Herausforderung gewesen. Grigori war dermaßen schockiert, dass er im Schritt innehielt. Wie konnte sie in diesem Alter schon eine Hure sein? Er machte kehrt, um das Mädchen zur Rede zu stellen, doch sie war verschwunden.
    Besorgt setzte Grigori seinen Weg fort. Natürlich wusste er, dass es Männer gab, die Sex mit Kindern wollten; das hatte er schon vor Jahren erfahren müssen, als er und Lew diesen Popen um Hilfe gebeten hatten. Aber das Bild des Mädchens mit dem kläglichen und zugleich lockenden Blick, der so unzweideutig »Wie wär’s mit uns beiden, Süßer?« gesagt hatte, zerriss ihm schier das Herz. Am liebsten hätte Grigori um sein Heimatland geweint. Wir machen unsere Kinder zu Huren, dachte er. Kann es schlimmer werden?
    Grigori war düsterer Stimmung, als er seine alte Wohnung erreichte. Kaum hatte er das Haus betreten, hörte er Wladimir schreien. Er stieg zu Katherinas Zimmer hinauf und fand das Kind allein vor, das Gesicht rot und vom Weinen verzerrt. Grigori hob den Jungen hoch und wiegte ihn auf den Armen.
    Das Zimmer war sauber und ordentlich und roch nach Katherina. Grigori kam fast jeden Sonntag her, und dann nahm alles seinen gewohnten Gang: Morgens gingen sie spazieren, und mittags kamen sie zurück und kochten etwas von dem Essen, das Grigori aus der Kaserne mitbrachte, wann immer er die Gelegenheit hatte. Anschließend machte Wladimir ein Nickerchen, und Grigori und Katherina schliefen miteinander. Sonntag für Sonntag verbrachte Grigori in diesem Zimmer seine glücklichsten Stunden.
    Wladimirs Quengeln wurde zu einem anhaltenden, kläglichen Jammern. Den Jungen auf dem Arm, machte Grigori sich auf die Suche nach der Hauswirtin, die eigentlich auf den Kleinen hätte aufpassen sollen. Er entdeckte sie in der Waschküche, einem niedrigen Anbau hinter dem Haus, wo sie nasse Bettlaken durch die Mangel drehte. Die Hauswirtin war eine Frau

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