Sturz der Titanen
für die Soldaten, konnte es gegen den Druck der Demonstranten dann aber nicht wieder schließen. Grigori kam sich unverwundbar vor, als er die Menschenmenge über den Exerzierplatz und zum Arsenal führte. Leutnant Kirilow kam aus der Kommandantur, sah die Menge und rannte los. »Ihr da!«, rief er. »Halt! Bleibt sofort stehen!«
Grigori beachtete ihn nicht.
Kirilow blieb stehen und zog seinen Revolver. »Halt!«, schrie er noch einmal. »Bleibt stehen, oder ich schieße!«
Zwei oder drei Männer aus Grigoris Zug hoben ihre Gewehre und schossen auf den Leutnant. Er wurde von mehreren Kugeln getroffen und sank blutend zu Boden.
Grigori rückte weiter vor.
Das Arsenal wurde von zwei Soldaten bewacht, doch keiner der beiden versuchte, Grigori aufzuhalten. Mit den letzten zwei Kugeln in seinem Magazin zerschoss er das Schloss der schweren Holztür. Die Menge drängte ins Arsenal, um an die Waffen zu gelangen. Einige von Grigoris Männern übernahmen das Kommando, öffneten Kisten voller Gewehre und Pistolen und verteilten sie zusammen mit Munition.
Jetzt ist es so weit, dachte Grigori. Das ist die Revolution! Er war in Hochstimmung, aber ein Rest von Angst blieb dennoch.
Er nahm sich zwei Nagant-Revolver, wie sie an Offiziere ausgegeben wurden, lud sein Gewehr nach und füllte seine Taschen mit Munition. Er galt jetzt als Verbrecher, also brauchte er Waffen.
Die restlichen Soldaten in der Kaserne schlossen sich der Plünderung des Arsenals an, und bald waren alle bis an die Zähne bewaffnet.
Mit Warjas Fahne in der Hand führte Grigori die Menge aus der Kaserne. Das Ziel solcher Demonstrationszüge war stets das Stadtzentrum gewesen, und diesmal war es nicht anders. Mit Isaak, Jakow und Warja marschierte Grigori an der Spitze des Zuges über die Brücke und hielt auf das geschäftige Herz von Petrograd zu. Er hatte das Gefühl zu träumen; er konnte nicht glauben, was geschah und wie schnell alles gegangen war. Jahrelang hatte er davon gesprochen, sich dem Regime zu widersetzen, und heute tat er es. Er erinnerte sich an die Worte des alten Mannes, nachdem Maminka von Soldaten des Zaren erschossen worden war. »Möge dir ein langes Leben beschieden sein«, hatte der Mann gesagt, als Grigori mit seiner toten Mutter auf den Armen den Schlossplatz verlassen hatte. »Lange genug, dass du dich rächen kannst. Lass den blutrünstigen Zaren für die Gräuel bezahlen.«
Vielleicht wird dein Wunsch jetzt erfüllt, Väterchen, dachte Grigori aufgeregt.
Die Männer des 1. Maschinengewehrregiments waren nicht die einzigen Soldaten, die an diesem Morgen gemeutert hatten. Als Grigori und seine Leute das andere Ufer der Newa erreichten, sahen sie zu ihrer Freude viele weitere Soldaten, die zum Zeichen des Widerstandes gegen die alte Ordnung ihre Mützen umgedreht hatten und ihre Mäntel offen trugen. Die meisten hatten überdies rote Armbinden oder Schleifen angelegt, was sie als Revolutionäre auswies. Requirierte Kraftwagen fuhren umher; Gewehre ragten aus den Fenstern, und lachende Mädchen saßen auf den Knien der Soldaten in den Fahrzeugen. Die Absperrungen des gestrigen Tages waren verschwunden. Das Volk hatte die Straße übernommen.
Grigori sah eine Weinhandlung, bei der das Fenster und die Tür eingeschlagen waren. Ein Soldat und ein Mädchen kamen heraus, in beiden Händen Flaschen. Nebenan hatte ein Kaffeehausbesitzer Teller mit Räucherfisch und Wurst nach draußen gebracht; nun stand er mit einer roten Schleife am Revers ängstlich da und forderte die Soldaten auf, sich zu bedienen. Offenbar wollte der Mann verhindern, dass sein Laden genauso geplündert wurde wie die benachbarte Weinhandlung.
Die Stimmung wurde immer ausgelassener, je näher sie dem Stadtzentrum kamen. Es gab bereits mehrere Betrunkene, obwohl erst Mittag war. Die Mädchen küssten jeden, der eine rote Armbinde trug. Grigori sah einen Soldaten, der in aller Öffentlichkeit die großen Brüste einer kichernden Frau mittleren Alters begrapschte. Ein paar Mädchen hatten sich Uniformen angezogen und stapften mit viel zu großen Schirmmützen und Stiefeln über die Straße.
Ein blitzblanker Rolls-Royce fuhr über die Straße. Die Menge versuchte, ihn aufzuhalten. Der Chauffeur trat aufs Gaspedal, doch irgendjemand öffnete die Tür und riss ihn heraus. Die Menschen rempelten einander, als sie versuchten, ins Innere des Wagens zu kommen. Grigori sah Graf Malakowski, einen der Direktoren der Putilow-Werke, vom Rücksitz springen. Er musste daran
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