Sturz der Titanen
Pflastersteine strömte. Andererseits, wenn Grigori scheiterte, wie viele Menschen würde der Heckenschütze heute Nachmittag dann noch umbringen?
Grigori zwang sich zur Geduld. Es war wie auf dem Schlachtfeld: Man rannte nicht einfach zu einem verwundeten Kameraden und opferte sich damit selbst. Ein solches Risiko ging man nur ein, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gab.
Grigori hörte einen weiteren Atemzug, gefolgt von einem langsamen Ausatmen. Einen Augenblick später flog ein ausgetretener Zigarettenstummel die Treppe hinunter, prallte von der Wand ab und landete vor Grigoris Füßen. Dann war zu hören, wie ein Mann auf engem Raum seine Körperhaltung veränderte. Grigori vernahm ein leises Murmeln. Es waren fast nur Flüche: »Schweine … Revolutionäre … stinkende Juden … krankes Pack … dreckige Huren …« Der Heckenschütze machte sich bereit, wieder zu töten.
Wenn Grigori ihn jetzt aufhielt, würde er zumindest ein Leben retten.
Er stieg eine Stufe hinauf.
Das Gemurmel hielt an: »Vieh … Sklaven … Diebe und Verbrecher …« Die Stimme klang seltsam vertraut.
Grigori machte einen weiteren Schritt und sah die Füße des Mannes, die in nagelneuen, glänzenden Polizeistiefeln steckten. Es waren kleine Stiefel; der Schütze konnte demnach kein großer Mann sein. Er hatte sich auf ein Knie niedergelassen, die stabilste Position zum Schießen. Nun sah Grigori, dass der Mann in einem der Ecktürmchen hockte, sodass er in drei verschiedene Richtungen feuern konnte.
Noch ein Schritt, dachte Grigori, und ich kann ihn erwischen.
Er stieg eine weitere Stufe hinauf, doch vor Anspannung verlor er den Halt, geriet ins Stolpern und ließ seinen Revolver fallen. Laut polternd fiel die Waffe auf die Stufe.
Der Heckenschütze stieß einen lauten, ängstlichen Fluch aus und schaute sich um.
Erstaunt erkannte Grigori den Mann: Es war niemand anders als Ilja Koslow, Pinskys Kumpan.
Grigori versuchte, sich seinen Revolver zu schnappen, griff jedoch daneben. Quälend langsam polterte die Waffe weiter die Treppe hinunter, eine Stufe nach der anderen, bis sie außerhalb von Grigoris Reichweite liegen blieb.
Koslow drehte sich um, doch bei seiner Körperhaltung ging das nicht so schnell.
Grigori fand währenddessen sein Gleichgewicht wieder und stieg weiter die Stufen hinauf.
Koslow versuchte verzweifelt, sein Gewehr herumzudrehen. Es war ein gewöhnliches Mosin-Nagant, allerdings mit Zielfernrohr. Die Waffe war lang, und Koslow konnte sie nicht schnell genug auf Grigori richten. Mit drei langen Sätzen war Grigori am Gegner. Koslow feuerte zwar noch, doch die Kugel prallte harmlos von der gekrümmten Wand des Treppenhauses ab.
Mit erstaunlicher Behändigkeit sprang Koslow auf. Er war ein hässlicher Kerl mit kleinem Kopf und bösartigem Gesicht, und Grigori vermutete, dass er nicht nur aus politischen Gründen zum Heckenschützen geworden war; wahrscheinlich wollte er sich auf diese Weise an all den großen Jungs – und Mädchen – rächen, die ihn sein Leben lang herumgestoßen hatten.
Grigori bekam das Gewehr zu fassen, und die beiden Männer rangen in der Enge des kleinen Turms um den Besitz der Waffe, unmittelbar neben dem offenen Fenster. Grigori hörte aufgeregtes Rufen. Offenbar war der Kampf von der Straße aus zu sehen.
Grigori war größer und stärker als sein Gegner, und er wusste, dass er das Gewehr früher oder später an sich bringen würde. Das wusste auch Koslow – und plötzlich ließ er die Waffe los. Grigori taumelte zurück. Blitzschnell zog der Polizist seinen kurzen Holzknüppel, schlug zu, traf Grigori am Kopf und hob den Knüppel zu einem weiteren Schlag. Grigori riss das Gewehr hoch, und diesmal traf der Knüppel den Lauf. Bevor Koslow abermals zuschlagen konnte, ließ Grigori die Waffe fallen, packte den Gegner mit beiden Händen am Kragen und hob ihn hoch.
Der Mann war leicht. Kurz hielt Grigori ihn über dem Boden in der Schwebe; dann schleuderte er ihn mit aller Kraft aus dem Fenster.
Schier unendlich langsam segelte Koslow durch die Luft. Das Sonnenlicht schimmerte auf dem grünen Besatz seiner Uniform, als er über die Brüstung des Kirchendachs flog. Ein lang gezogener Schrei puren Entsetzens durchschnitt die Stille. Dann schlug Koslow mit einem Knall auf dem Pflaster auf, der sogar noch oben im Glockenturm zu hören war, und der Schrei verstummte abrupt.
Nach kurzer Stille brandete lauter Jubel auf.
Jetzt erst wurde Grigori klar, dass die Leute ihn bejubelten.
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