Sturz der Titanen
nahezu dunklen Schacht sah Grigori eine weitere Tür.
Als seine Augen sich auf gleicher Höhe mit dieser Tür befanden, öffnete er sie mit der linken Hand einen Spalt, während er in der rechten nach wie vor das Gewehr hielt. Helles Sonnenlicht fiel hindurch.
Grigori stieß die Tür auf.
Niemand war zu sehen.
Zum Schutz vor der Sonne kniff Grigori die Augen zusammen und suchte den kleinen Bereich ab, den er durch die Tür hindurch einsehen konnte. Er befand sich im Glockenturm. Die Tür öffnete sich nach Süden. Der Newski-Prospekt wiederum befand sich nördlich der Kirche. Der Heckenschütze war auf der anderen Seite – es sei denn, er hatte seine Stellung verlegt, um seinem Jäger aufzulauern.
Vorsichtig stieg Grigori eine weitere Stufe hinauf, dann noch eine, und steckte den Kopf hinaus.
Nichts geschah.
Grigori trat durch die Tür.
Unter seinen Füßen fiel das Dach leicht zu einer Regenrinne ab, die an der Brüstung entlangverlief. Holzbohlen erlaubten es den Arbeitern, sich auf dem Dach zu bewegen, ohne auf die Schindeln zu treten. Hinter Grigori ragte der Glockenstuhl empor.
Das Gewehr im Anschlag, schlich er um den Turm herum.
Von der ersten Ecke aus konnte er westlich den Newski-Prospekt hinunterblicken. In der klaren, hellen Luft reichte sein Blick bis zur Admiralität mit ihrer goldenen Spitze. In größerer Entfernung wimmelte es auf der Straße von Menschen, in unmittelbarer Nähe jedoch war sie vollkommen leer. Der Heckenschütze musste noch bei der Arbeit sein.
Grigori lauschte, hörte aber keine Schüsse.
Er schob sich weiter den Turm entlang und spähte um die nächste Ecke. Nun konnte er die gesamte Nordseite der Kirche einsehen. Er war sicher gewesen, den Schützen hier vorzufinden, flach auf dem Boden liegend und das Gewehr durch die Brüstung geschoben; aber da war niemand. Jenseits der Brüstung sah Grigori die breite Straße tief unten, wo Menschen sich in Hauseingänge und hinter Ecken duckten, während sie darauf warteten, was geschah.
Einen Sekundenbruchteil später krachte das Gewehr des Heckenschützen. Ein Schrei, der unten von der Straße heraufdrang, verriet Grigori, dass der Mann sein Ziel getroffen hatte.
Der Schuss war vom Turm gekommen.
Grigori blickte nach oben. Der Glockenturm hatte glaslose Fenster und wurde an den Ecken von kleineren Türmchen eingerahmt. Der Schütze war irgendwo dort oben und feuerte aus einer der vielen Öffnungen. Zum Glück hatte Grigori sich dicht an der Wand gehalten, wo der Schütze ihn nicht hatte sehen können.
Grigori schlich zurück in den Turm. In dem engen Treppenhaus fühlte sein Gewehr sich ungewohnt groß und unhandlich an. Er legte es ab und zog eine seiner Handwaffen. Ihr Gewicht verriet ihm, dass sie nicht geladen war. Grigori fluchte lautlos: Einen Nagant-Revolver zu laden war eine langwierige Angelegenheit. Er holte einen Munitionskarton aus seiner Manteltasche und schob sieben Patronen nacheinander durch die ungünstig angebrachte Ladeöffnung in die Revolvertrommel. Dann spannte er den Hahn, ließ sein Gewehr zurück und stieg leise die Wendeltreppe weiter hinauf. Er bewegte sich mit gleichmäßigem, ruhigem Schritt, denn er befürchtete, angestrengtes Atmen könne ihn verraten. Den Revolver hielt er nach oben gerichtet, die Treppe hinauf.
Plötzlich roch er Tabakrauch.
Der Heckenschütze rauchte eine Zigarette. Doch der Geruch war so weit verteilt, dass Grigori nicht sicher sein konnte, wo genau der Mann sich befand.
Vor und über sich sah er flirrendes Sonnenlicht. Grigori schlich weiter, den Revolver schussbereit. Das Licht fiel durch eines der offenen Fenster. Dort war der Schütze nicht.
Grigori stieg weiter hinauf. Wieder sah er Licht. Der Zigarettengeruch wurde stärker. Bildete Grigori es sich nur ein, oder konnte er mit einem Mal die Präsenz des Schützen ein paar Schritte weiter die Wendeltreppe hinauf spüren?
Und wenn ja, konnte der Mann auch ihn erspüren?
Unvermittelt hörte Grigori, wie jemand die Luft einsog. Er erschrak so sehr, dass er um ein Haar abgedrückt hätte. Dann wurde ihm klar, dass der Mann nur an der Zigarette gezogen hatte. Es folgte ein leises, zufriedenes Geräusch, als er den Rauch ausstieß.
Grigori zögerte. Er wusste nicht, in welche Richtung der Schütze schaute oder wohin er seine Waffe gerichtet hatte. Wenn der Kerl noch einmal feuerte, würde er es wissen. Das aber konnte einen weiteren Toten bedeuten. Ein Opfer wie Jakow und Warja, deren Blut nun auf die kalten
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