Sturz der Titanen
denken, wie verzaubert Malakowski von Fürstin Bea gewesen war, als diese das Werk besucht hatte. Die Menge jubelte, ließ den Grafen aber unbehelligt, als er davonrannte, den Pelzkragen hochgeschlagen. Neun oder zehn Personen drängten sich nun in den teuren Wagen, und einer fuhr wild hupend los.
An der nächsten Ecke machte sich eine Handvoll Leute einen Spaß daraus, einen großen dünnen Mann mit Filzhut und im zerschlissenen Mantel eines Angestellten aus der Mittelschicht zu quälen. Ein Soldat stieß ihn mit dem Gewehrkolben; eine alte Frau spie ihm ins Gesicht, und ein junger Bursche in Arbeiterkleidung schleuderte ihm eine Handvoll Dreck ins Gesicht. »Lasst mich vorbei!«, rief der Mann und bemühte sich, autoritär zu klingen, doch die Leute lachten nur. Mit einem Mal erkannte Grigori den Mann: Es war Kanin, der Fertigungsleiter aus den Putilow-Werken. Kanin rutschte der Hut vom Kopf, und Grigori sah, dass er kahl geworden war.
Grigori drängte sich durch den Mob. »Lasst den Mann!«, rief er. »Er ist Ingenieur! Ich habe mit ihm gearbeitet!«
Kanin erkannte Grigori. »Danke, Peschkow«, sagte er. »Ich versuche nur, zum Haus meiner Mutter zu kommen. Ich will sehen, wie es ihr geht.«
Grigori drehte sich zu den Leuten um. »Lasst den Mann vorbei. Ich bürge für ihn.« Er sah eine Frau mit einem roten Band – vermutlich aus einer Schneiderei gestohlen – und bat sie, ein Stück davon abzuschneiden. Die Frau tat ihm den Gefallen, und Grigori band Kanin das Band um den linken Arm. Die Menge jubelte.
»Jetzt sind Sie sicher«, sagte Grigori.
Kanin schüttelte ihm die Hand und ging davon. Niemand hielt ihn mehr auf.
Grigoris Gruppe gelangte auf den Newski-Prospekt, die breite Einkaufsstraße, die vom Winterpalast bis zum Alexander-Newski-Kloster führte. Der Prospekt war voller Menschen, die aus Flaschen tranken, aßen, tanzten, grölten, sich küssten und in die Luft feuerten. Bei den Restaurants, die noch geöffnet hatten, hingen Schilder in den Fenstern, auf denen zu lesen stand: »Kostenloses Essen für Revolutionäre« oder »Iss, was du willst, und zahle, was du kannst«. In viele Läden war eingebrochen worden; überall lagen Glassplitter auf den Pflastersteinen. Eine der verhassten Straßenbahnen, die viel zu teuer waren für Arbeiter, war mitten auf der Straße umgestürzt worden; ein Renault war hineingekracht.
Grigori hörte einen Schuss; aber da überall in die Luft gefeuert wurde, kümmerte es ihn anfangs nicht. Dann aber geriet Warja neben ihm ins Wanken und stürzte. Grigori und Jakow knieten sich neben sie. Warja schien das Bewusstsein verloren zu haben. Die beiden Männer drehten den schweren Körper um und sahen auf den ersten Blick, dass sie Warja nicht mehr helfen konnten: Eine Kugel war in ihre Stirn eingedrungen; ihre Augen waren tot und leer.
Grigori gestattete sich keine Trauer, weder um Warja noch um ihren Sohn Konstantin, seinen besten Freund. Auf dem Schlachtfeld hatte er gelernt, dass später immer noch Zeit zu trauern war. Aber war dies hier ein Schlachtfeld? Und wer sollte ein Interesse daran haben, Warja zu töten? Doch der Schuss schien gezielt gewesen zu sein; es machte nicht den Eindruck, als wäre Warja vom Querschläger eines Feiernden getroffen worden.
Einen Moment später beantwortete die Frage sich von selbst. Jakow kippte nach vorn. Er blutete aus der Brust. Sein schwerer Körper schlug mit einem dumpfen Laut auf den Pflastersteinen auf.
Grigori wich erschrocken vor den zwei Leichen zurück, duckte sich, machte sich zu einem möglichst kleinen Ziel und hielt nach Deckung Ausschau.
Er hörte einen weiteren Schuss und sah, wie ein Soldat mit einem roten Tuch um die Mütze die Hände vor den Bauch schlug. Dann fiel er schreiend zu Boden und lag zuckend da.
Irgendwo verbarg sich ein Heckenschütze und feuerte gezielt auf die Revolutionäre!
Grigori rannte los und warf sich hinter den umgestürzten Straßenbahnwagen.
Eine Frau schrie, dann noch eine. Die Menschen sahen die blutenden Verletzten und rannten davon.
Grigori hob den Kopf und suchte die umliegenden Gebäude ab. Der Schütze musste ein Polizist sein, aber wo steckte er? Grigori hatte den Eindruck gehabt, dass die Schüsse von der anderen Straßenseite gekommen waren. Die Gebäude leuchteten im Licht der Nachmittagssonne. Da war ein Hotel, ein Juwelier mit geschlossenen Stahlfensterläden, eine Bank und an der Ecke eine Kirche. Offene Fenster waren nicht zu sehen; also musste der Schütze sich auf
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