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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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jetzt tun würde.
    Die Debatte wurde häufig durch Bekanntmachungen unterbrochen. Oft waren sie alles andere als dringend – ein Soldat stand auf und verkündete, sein Bataillon habe ein Komitee gegründet und den Oberst verhaftet. Manchmal waren es noch nicht einmal Bekanntmachungen, sondern bloß Aufrufe, die Revolution zu verteidigen.
    Doch Grigori wusste sofort, dass irgendetwas geschehen war, als ein grauhaariger Sergeant mit rotem Gesicht und außer Atem aufs Podium sprang, ein Stück Papier in der Hand, und Ruhe verlangte.
    Langsam und laut las er vor: »Der Zar hat ein Dokument unterzeichnet …«
    Schon nach diesen wenigen Worten brandete Jubel auf.
    Der Sergeant hob die Stimme: »… in dem er auf seine Krone verzichtet …«
    Der Jubel wurde zu einem Tosen. Grigori war wie elektrisiert. Stimmte das wirklich? War der Traum wahr geworden?
    Der Sergeant hob Schweigen gebietend die Hand. Er war noch nicht fertig.
    »… wegen der schlechten Gesundheit seines dreizehnjährigen Sohnes Alexej hat der Zar seinen jüngeren Bruder zu seinem Nachfolger bestimmt, den Großfürsten Michail.«
    Der Jubel verwandelte sich in Protestgeheul. »Nein!«, rief Grigori, doch seine Stimme ging im Geschrei Tausender unter.
    Erst nach Minuten wurde es wieder ruhiger; dann war von draußen lautes Gebrüll zu vernehmen. Die Menge im Hof musste die gleiche Nachricht erhalten haben und nahm sie genauso entrüstet auf.
    Grigori sagte zu Konstantin: »Die Provisorische Regierung darf das nicht akzeptieren.«
    »Ganz meine Meinung«, erwiderte Konstantin. »Lass uns gehen und es ihnen sagen.«
    Sie verließen den Sowjet und durchquerten den Palast. Die Minister der neu gebildeten Regierung trafen sich im selben Raum, in dem vor ihnen das Provisorische Komitee zur Wiederherstellung der Öffentlichen Ordnung getagt hatte – tatsächlich waren es fast dieselben Mitglieder. Sie diskutierten bereits über die Erklärung des Zaren.
    Pawel Miljukow war aufgestanden. Der gemäßigte Minister mit dem funkelnden Monokel argumentierte, dass die Monarchie als Symbol der Legitimität erhalten bleiben müsse. »Das ist doch Pferdescheiße«, knurrte Grigori. Die Monarchie symbolisierte Unfähigkeit, Grausamkeit und Niederlage, aber keine Legitimität. Glücklicherweise dachten andere genauso. Kerenski, der inzwischen Justizminister war, schlug vor, Großfürst Michail anzuweisen, die Krone abzulehnen, und zu Grigoris großer Erleichterung stimmte die Mehrheit dem Vorschlag zu.
    Kerenski und Fürst Lwow wurden aufgefordert, sich umgehend zum Großfürsten zu begeben. Miljukow starrte sie durch sein Monokel an und erklärte: »Ich werde sie als Repräsentant der Minderheit begleiten!«
    Grigori nahm an, dass diese lächerliche Idee sofort zurückgewiesen würde, doch zu seinem Erstaunen willigten die anderen Minister ein. Nun erhob sich Grigori. Ohne darüber nachgedacht zu haben, erklärte er: »Und ich werde die Minister als Beobachter des Petrograder Sowjets begleiten.«
    »Meinetwegen«, sagte Kerenski resignierend.
    Sie verließen den Palast durch eine Seitentür und stiegen in zwei wartende Renault-Limousinen. Der Dumapräsident, der fette Rodsjanko, begleitete sie ebenfalls. Grigori konnte kaum glauben, wie ihm geschah. Er war Teil einer Delegation, die einem Kronprinzen befehlen würde, die Krone abzulehnen und darauf zu verzichten, Zar zu werden. Dabei war er vor weniger als einer Woche noch hilflos von einem Tisch geklettert, weil Leutnant Kirilow es ihm befohlen hatte. Die Welt veränderte sich so schnell, dass man kaum mithalten konnte.
    Grigori war noch nie im Hause eines reichen Aristokraten gewesen. Für ihn war es so, als würde er eine Traumwelt betreten. Das große Gebäude war mit Reichtümern nur so vollgestopft. Wo Grigori auch hinschaute, sah er prachtvolle Vasen, wunderschön ausgestaltete Uhren, Silberleuchter und mit Edelsteinen geschmückte Ornamente. Hätte er sich eine goldene Schüssel geschnappt und wäre damit hinausgerannt, um sie zu verscherbeln, hätte er sich davon ein Haus zulegen können, nur dass derzeit niemand goldene Schüsseln kaufte: Die Menschen wollten Brot.
    Fürst Georgi Lwow, ein silberhaariger Mann mit langem, buschigem Bart, war weder von der Pracht beeindruckt noch vom Ernst seiner Mission eingeschüchtert, doch alle anderen wirkten verängstigt. Sie warteten in einem Salon, betrachteten stirnrunzelnd die antiken Porträts und scharrten mit den Füßen auf dem dicken Teppich.
    Und dann erschien

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