Sturz der Titanen
Großfürst Michail. Er war ein frühzeitig kahl gewordener Mann von achtunddreißig Jahren mit einem kleinen Schnurrbart. Zu Grigoris Erstaunen wirkte er noch viel nervöser als die Delegation. Er war schüchtern und verwirrt, auch wenn er nach wie vor hochmütig das Kinn gehoben hatte. Schließlich brachte er genug Mut auf, um zu fragen: »Was haben Sie mir zu sagen?«
Lwow antwortete: »Wir sind gekommen, Sie zu bitten, die Krone abzulehnen.«
»O Gott«, sagte Michail. Er schien nicht zu wissen, was er tun sollte.
Kerenski sagte unmissverständlich: »Das Volk von Petrograd hat mit Zorn auf die Entscheidung Seiner Majestät des Zaren reagiert. Ein großes Kontingent Soldaten marschiert bereits auf den Taurischen Palast. Es wird zu einem gewalttätigen Aufstand kommen, gefolgt von Bürgerkrieg – es sei denn, wir verkünden sofort , dass Sie auf die Thronfolge verzichtet haben.«
»O Gott«, sagte Michail noch einmal.
Der Großfürst war mit Geistesgaben nicht gerade gesegnet, erkannte Grigori. Aber das verwunderte ihn nicht. Hätten diese Leute etwas im Kopf, stünden sie jetzt nicht kurz davor, den russischen Thron zu verlieren.
Miljukow erklärte: »Kaiserliche Hoheit, ich repräsentiere die Minderheit in der Provisorischen Regierung. Wir sind der Meinung, dass die Monarchie das einzig gültige Machtsymbol darstellt.«
Michail schaute ihn noch verwirrter an. Was dieser Mann jetzt am wenigsten gebrauchen kann, dachte Grigori, ist die Möglichkeit, eine Wahl treffen zu können. Das macht die Sache für ihn nur umso schlimmer. Der Großfürst bat: »Dürfte ich mit Rodsjanko unter vier Augen sprechen? Nein, Sie müssen nicht gehen … Wir werden uns in den Nebenraum zurückziehen.«
Nachdem der designierte Zar und der dicke Dumapräsident gegangen waren, diskutierten die anderen leise miteinander. Mit Grigori sprach niemand. Er war der einzige Angehörige der Arbeiterklasse im Salon, und er hatte das Gefühl, als hätten die anderen Angst vor ihm, als vermuteten sie – zutreffend –, dass er Pistole und Munition in der Uniformtasche bei sich trug.
Rodsjanko kam zurück. »Der Großfürst hat mich gefragt, ob wir für seine Sicherheit garantieren könnten, wenn er der neue Zar würde«, erklärte er. Es widerte Grigori an, dass der Großfürst zuerst an sich und erst dann an sein Land gedacht hatte, doch es überraschte ihn nicht. »Ich habe ihm geantwortet, dass wir nicht dazu in der Lage wären«, fuhr Rodsjanko fort.
Kerenski hakte nach: »Und?«
»Er wird sich gleich wieder zu uns gesellen.«
Nach einer scheinbar endlosen Pause kehrte Großfürst Michail zurück. Die Delegation verstummte. Stille breitete sich aus.
Schließlich verkündete Michail: »Ich habe beschlossen, die Krone abzulehnen.«
Grigoris Herz setzte einen Schlag aus. Acht Tage, dachte er. Vor acht Tagen sind die Frauen aus Wyborg über die Sampsonjewski-Brücke marschiert, und heute ist die Herrschaft der Romanows zu Ende.
Kerenski schüttelte dem Großfürsten die Hand und sagte irgendetwas Bombastisches, doch Grigori hörte gar nicht zu.
Wir haben es geschafft, dachte er. Wir haben eine Revolution gemacht.
Wir haben den Zaren gestürzt.
Er erinnerte sich an die Worte seiner Mutter an ihrem Todestag: »Ich werde nicht eher ruhen, bis Russland eine Republik ist.«
Dein Wunsch ist in Erfüllung gegangen, Maminka, dachte Grigori. Jetzt kannst du in Frieden ruhen.
In Berlin öffnete Otto von Ulrich eine Magnumflasche Perrier-Jouët vom Jahrgang 1892.
Die von Ulrichs hatten die von der Helbards zum Mittagessen eingeladen: Freiherr Konrad, Monikas Vater, und Freifrau Eva, ihre Mutter. Eva von der Helbard war eine elegante Frau, die ihr graues Haar extravagant frisiert trug. Vor dem Essen trieb sie Walter in eine Ecke und erzählte ihm, Monika sei eine ausgezeichnete Violinistin und auf der Schule in allen Fächern die Klassenbeste gewesen. Aus dem Augenwinkel sah Walter seinen Vater mit Monika sprechen; er nahm an, dass sie sich ihrerseits Berichte aus seiner schulischen Vergangenheit anhören musste.
Walter ärgerte sich über seine Eltern, weil sie ihm weiterhin mit aller Gewalt Monika aufzwingen wollten. Die Tatsache, dass er sich sehr von ihr angezogen fühlte, machte das Ganze noch schlimmer. Monika von der Helbard war intelligent und schön. Ihr Haar war stets sorgfältig frisiert, aber Walter malte sich immer wieder gerne aus, wie sie nachts die Haarnadeln herausnahm und den Kopf schüttelte, sodass ihre üppigen
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