Sturz der Titanen
wusste, dass Nikolai Sokolow ein linksgerichteter Anwalt war. Das war ein Glückfall, denn sie brauchten jemanden, der ihre Erklärungen korrekt ausformulierte.
Der Sprecher fuhr fort: »Wenn ihr euch darauf geeinigt habt, was ihr wollt, könnt ihr euren Vorschlag dem Sowjet vorlegen. Der wird dann eine Erklärung abgeben.«
»Gut.« Grigori sprang vom Podium. Sokolow saß an einem kleinen Tisch an der Wand. Grigori und Konstantin gingen zu ihm, gefolgt von mehr als einem Dutzend Deputierter.
»Also gut«, sagte Sokolow. »An wen soll die Erklärung gerichtet sein?«
Grigori war verwirrt. Er wollte sagen: »An die Welt«, doch ein Soldat kam ihm zuvor: »An die Garnison des Petrograder Militärbezirks.«
Ein anderer sagte: »An alle Soldaten der Garde, der Armee und der Artillerie.«
»Und an die Flotte«, fügte wieder ein anderer hinzu.
»Sehr gut«, sagte Sokolow und begann zu schreiben. »Ich nehme an, das Ganze soll sofort umgesetzt werden?«
»Ja.«
»Und an die Arbeiter von Petrograd zur Kenntnisnahme geschickt werden?«
Grigori wurde ungeduldig. »Jaja«, sagte er und ließ den Blick schweifen. »Wer war das noch mal, der die gewählten Komitees vorgeschlagen hat?«
»Das war ich«, antwortete ein Soldat mit grauem Schnurrbart. Er saß auf der Tischkante direkt vor Sokolow. »Alle Truppen sollen sofort Komitees wählen«, diktierte er.
Sokolow schrieb weiter und murmelte vor sich hin: »In allen Kompanien, Bataillonen und Regimentern …«
Jemand fügte hinzu: »Depots, Batterien, Geschwadern, Festungen …«
Der Mann mit dem grauen Schnurrbart sagte: »Wer noch keine Deputierten gewählt hat, muss es sofort nachholen.«
»Stimmt«, sagte Grigori ungeduldig. »Und jetzt: Alle Waffen, einschließlich Panzerwagen, unterstehen dem Befehl der Komitees, nicht der Offiziere.«
Mehrere Soldaten stimmten ausdrücklich zu.
»Sehr gut«, sagte Sokolow.
Grigori fuhr fort: »Eine Militäreinheit untersteht dem Sowjet der Arbeiter und Soldaten und seinen Komitees.«
Zum ersten Mal hob Sokolow den Blick. »Damit würde der Sowjet die Armee kontrollieren.«
»Ja«, bestätigte Grigori. »Die Befehle der Duma dürfen nur befolgt werden, wenn sie denen des Sowjets nicht widersprechen.«
Sokolow schaute Grigori weiterhin an. »Damit wäre die Duma genauso machtlos, wie sie immer war. Früher war sie den Launen des Zaren unterworfen, jetzt dem Willen des Sowjets.«
»Genau«, sagte Grigori.
»Dann ist der Sowjet also das höchste Gremium.«
»Schreib«, forderte Grigori ihn auf.
Und Sokolow schrieb.
Jemand sagte: »Offiziere dürfen andere Ränge nicht mehr misshandeln.«
»Gut«, sagte Sokolow.
»Und sie dürfen sie nicht mehr ansprechen, als wären sie Kinder oder Tiere.«
Grigori hielt diese Klauseln für völlig unwichtig. »Das Dokument braucht einen Titel«, sagte er.
»Was schlägst du vor?«, fragte Sokolow.
»Wie hießen die bisherigen Anweisungen des Sowjets?«
»Es gab keine«, antwortete Sokolow. »Das ist die erste.«
»Dann nennen wir ihn Befehl Nummer eins.«
Es vermittelte Grigori ein Gefühl tiefer Zufriedenheit, sein erstes Gesetz als gewählter Abgeordneter verabschiedet zu haben. Während der nächsten beiden Tage folgten weitere, und Grigori ging mehr und mehr in der Arbeit der Revolutionsregierung auf. Doch die ganze Zeit dachte er auch an Katherina und Wladimir, und am Donnerstagabend bekam er endlich Gelegenheit, sich davonzustehlen und nach den beiden zu sehen.
Sein Herz war voller dunkler Vorahnung, als er durch die Vorstadt ging. Katherina hatte ihm versprochen, jedem Ärger aus dem Weg zu gehen, aber die Frauen von Petrograd glaubten, dies sei nicht nur die Revolution der Männer, sondern auch ihre. Schließlich hatte ja auch alles am Internationalen Frauentag begonnen.
Doch Grigoris Mutter war bei der gescheiterten Revolution von 1905 gestorben. Falls Katherina beschlossen hatte, mit Wladimir ins Stadtzentrum zu gehen, um zu sehen, was los war, hätte sie sich großen Gefahren ausgesetzt. Viele Unschuldige waren gestorben – erschossen von der Polizei, von der Menge niedergetrampelt, von betrunkenen Soldaten überfahren oder von Querschlägern getroffen, als die Freudenschüsse abgegeben worden waren. Als Grigori das alte Haus betrat, hatte er Angst, einer der Mieter würde ihm mit düsterem Gesicht und Tränen in den Augen entgegentreten und ihm zurufen: Es ist etwas Schreckliches passiert!
Grigori stieg die Treppe hinauf, klopfte an die Tür und trat ein.
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